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Es lebe meine eigene Souveränität! Die Tarnkappe Es ist einfühlbar, dass jene Sorte Mensch, welche die Welt beherrscht,
immer ausgeklügeltere Formen der Macht ausheckt, um
sie sich zu bewahren. Die Fiaski der Vergangenheit sollen sich nicht
wiederholen. Das früher übliche Schicksal der Könige lädt kaum mehr ein, nach
der Krone zu greifen. Sind Ihro Majestät nicht meuchlings erdolcht, im Kampfe
erschlagen oder auf dem Schafott geköpft worden, lag ihr die ständige
Angst im Nacken, irgendein dahergelaufener Emporkömmling werde sie vom Throne
jagen. Die Burgen mochten noch so fest, die Wächter und Kanonen noch so
zahlreich, die den Unbotmässigen angedrohten Sanktionen noch so abschreckend
sein, die Herrschaft blieb ewig wacklig. Um ihre Haut zu retten, musste nun
endlich ein System her, welches ihnen Macht und Leben zugleich garantierte.
Warum denn, werden sie sich gefragt haben, sollen wir uns als lebendige
Zielscheiben präsentieren? Machen wir uns doch unsichtbar! Über die Erfindung der Demokratie ist ihnen dies auf scheinbar geniale
Weise gelungen: Mit grossem Pomp haben sie ihre Untertanen auf den
Königsstuhl gesetzt, während sie sich selbst diskret verzogen haben. Die
Meidung der Öffentlichkeit wurde fortan eines ihrer obersten
Prinzipien. Der frischgebackene "Souverän" muss sich wie der Hans im
Glück vorgekommen sein! Seit Urzeiten hatte das gebeutelte Volk nichts als
Mühsal zu erdulden. Nicht nur kämpfte es um seine eigene karge Existenz,
nein! - auch die Herren waren mitzufüttern. Wer liesse sich da zweimal bitten, die gefrässigen Schmarotzer
loszuwerden? Die Verwirrung Jetzt sind wir die Herren, jubelte das Volk. Wir wählen unser
Parlament, die Regierung und die Richter. Und es wählte munter drauflos. Wir sind frei! Das Leben wird besser! Die Jahre zogen ins Land und das Volk fühlte sich erbärmlich. Begann es sich aufzuregen, stand prompt in der Zeitung, den Menschen in
Russland und anderswo ergehe es himmeltraurig. Das Volk fand ein paar
Augenblicke lang Trost im Elend der anderen. Sobald die Zweifel weiternagten,
las es die Frage, ja wollt Ihr denn Zustände wie in Russland? Da es - wie
gesagt aus der Zeitung - schon wusste, dass die Zustände dort schrecklich
seien, lehnte es dankend ab. Auch ins finstere Mittelalter wolle es nicht
zurückfallen, beteuerte es, wenn die Geschichtsprofessoren über die damalige
Barbarei zu berichten pflegten. Wiewohl das Volk weder in Russland selbst
nachgeschaut, geschweige denn im Mittelalter gelebt hatte, glaubte es
treuherzig allen Autoritäten. Wir besitzen die idealste Staatsform, welche man sich überhaupt
vorstellen kann, die Demokratie! Warum bloss herrscht trotzdem dieses tägliche
Chaos, dieser unsägliche Stress? Was - zum Teufel - ist denn eigentlich los?! Die Antwort ist verblüffend einfach. Der Betrug Das Zepter ist dem Volk ohne die Reichskasse übergeben worden! Diese
gefüllt mit all den unermesslichen Schätzen der Gegenwart und der
Vergangenheit haben die Mächtigen - Plutokraten, wie ich sie nenne - für sich
behalten. Das Volk blieb arm wie eine Kirchenmaus! Ihre Vermögen haben sie in die "sociétés anonymes" (SA), die
Aktiengesellschaften eingebracht. Dreist haben sie sich in den Verfassungen
garantieren lassen, dass ihr gesamter Besitz unantastbar sei und sie damit
frei schalten und walten können. Wie man weiss, haben sie davon reichlich Gebrauch gemacht und überall
dort, wo offiziell und auf dem Papier die Demokratie steht, dafür gesorgt,
dass sämtliches gedrucktes und geprägtes Hartgeld in ihre Tresoren flutete,
von wo sie es zusammen mit ihrem selbst erfundenen Buchgeld als Kredite samt
Schuld- und Zinspflicht vor allem den ihnen ideologisch verbundenen Unternehmern
zuschoben. Diese haben, um die den Plutokraten geschuldeten Zinsen und ihre
eigenen fetten Gewinne zu generieren, die Welt in eine einzige
Maschinenfabrik samt allem Drum und Dran verwandelt. Gebaut hat sie das Volk.
Und wer bedient sie? Das Volk! Eroberungskriege sind nicht mehr nötig. Allen Menschen wird massenhaft
produzierter Schund und Schutt angedreht. Das Untertanenverhältnis der Käufer
stellt sich über den Preis der Ware her: Bezahlen kann nur, wer sich zuvor
mit seiner Arbeitskraft den Herren verkauft hat. Miserere nobis Die Babylonier, Ägypter, Griechen, Römer, all die Kaiser im Süden,
Westen, Norden und Osten haben seit jeher die Völker in ihre Gewalt genommen.
Ein scharfer Blick in die heutige Zeit belegt, dass - von den neuen Namen
der Systeme abgesehen - alles beim Alten geblieben ist. Die Herren von
Amerika, Russland, China oder anderswo lassen sich von ihren Leibeigenen
bedienen und sie beherrschen mit ihnen ihre Hemisphären. Die Bilanz ist ernüchternd. Trotz heftigstem Bemüh'n sind bis heute
alle Pröbeleien, die Volksherrschaft einzurichten, gescheitert. Wer wohl käme
da noch auf den Gedanken, man solle doch jetzt endlich die Demokratie
verwirklichen. Ganz offensichtlich verträgt sie sich nicht mit der Natur des
Menschen: Ein paar Hammel wird es immer zwicken, die Herde anzuführen. Als
Probe aufs Exempel mag die Schweiz dienen. Nach siebenhundert Jahren
"Demokratie" tummeln sich dort lauter Plutokraten. Sie sind zu Meistern
ihres Faches aufgestiegen. In ihren Pfoten halten sie nicht nur ihre eigenen,
sondern sie verwalten auch noch die Blutgelder ihrer ausländischen Kollegen. Nieder mit der Diktatur der Plutokraten! Die Volksherrschaft erweist sich als Illusion. Knecht will auch
niemand sein. Fallen folglich als Staatssysteme die Herrschaft aller und die
Herrschaft Einzelner über die anderen ausser Betracht, bietet sich als ideale
Form des Zusammenlebens die Herrschaft des Einzelnen ausschliesslich über
sich selbst geradezu an. Warum wohl bloss ist denn jetzt augenblicklich die Hölle los? Es sind die amtierenden Herren, welche zetern und schreien:
"Jetzt kommt doch da schon wieder einer, der uns die Anarchie andrehen
will!" Ihre helle Aufregung ist begreiflich. Seit jeher haben sie sich
bedienen lassen. Sie haben es verlernt, eigenhändig die Äcker zu bestellen
und sich selbst zu ernähren. Gäbe es niemanden zu dominieren, keine Lakaien
mehr, würden sie glatt verhungern! Zum Wesen der Monarchie zählt die Dienerschaft. In der Demokratie, so
wie sie sie dulden, ist das haargenau gleich. Die Anarchie jedoch, welche die
Herrschaft über jeden andern ausschliesst, zwingt zur Selbständigkeit. Diese
Eigenschaft fehlte den Monarchen. Auch ihren Nachfolgern, den heutigen
Plutokraten, ist sie wesensfremd. Unfähig, für die eigene Existenz zu sorgen,
müssen sie auf Gedeih und Verderb um den Erhalt jenes Systems kämpfen,
welches sie füttert und ihnen all die übrigen Annehmlichkeiten verschafft,
von welchen sie abhängig sind. Entsprechend wettern sie gegen alles, was ihre
Herrschaft über die Menschen in Frage stellt. Es ist ihnen schon damals, als
sie ihre "Demokratie" vermarktet haben, gelungen, die Anarchie als
Schreckgespenst an die Wand zu malen, zum Schimpfwort werden zu lassen. Gegen
die Demokratie hatte sie keine Chance. Heute, nachdem das Scheitern der
Demokratie eindeutig feststeht, sieht die Sache schon ein bisschen anders
aus. Demokratie hat's nicht nur nie gegeben, sie ist auch theoretisch und
praktisch ein Ding der Unmöglichkeit: Niemals nämlich können alle zugleich
über ihre Bedürfnisse entscheiden. Man braucht sich bloss vorzustellen, jeder
dieser paar Milliarden Menschen auf der Erde würde gleichzeitig seine aktuellen
Wünsche äussern. Ein unvorstellbares Durcheinander wäre die Folge. Die
Ewigkeit würde nicht ausreichen, um in Abstimmungsprozeduren alle Vorschläge
einander gegenüberzustellen. Realität ist - trotz demokratischer Verfassungen - die Herrschaft
Einzelner über die anderen. Auch dort, wo das Volk abstimmt, sind es jeweils
nur einzelne, welche mit ihren Forderungen und Interessen durchdringen. Ein
Gesetz entsteht ja nie gleichzeitig in den Köpfen aller, sondern es ist in
seinem Ursprung die Ausgeburt eines einzigen Hirns. Sein Erfinder hebt sich
mit einer typischen Eigenschaft vom Gros der Masse ab: In der anstehenden
Auseinandersetzung verfügt er über die erforderliche Macht, sein Gesetz
durchzupauken. Alle übrigen bleiben mit ihren Vorstellungen auf der Strecke.
Die "Herrschaft" der Abgeschlagenen reduziert sich letztlich
darauf, dem Einzigen zuzustimmen, um so für sich in Anspruch nehmen zu
können, "wir sind auch dafür gewesen". Damit sitzen sie ganz hübsch
in einer doppelten Falle: In der eigenen und in jener des Gesetzesschmiedes. Wie sieht so eine Falle aus? Pflücken wir aus dem Gesetzeswald irgendein Beispiel heraus: Das
Schuldbetreibungsgesetz. Es besagt, dass ein "Gläubiger" - das ist
einer, der von einem anderen Geld zugut hat - seinem zahlungsunwilligen
"Schuldner" den Betreibungsbeamten auf den Hals hetzen und ihm das
Geld oder geldwerte Äquivalente nötigenfalls mit Gewalt wegnehmen kann. Wie hinlänglich bekannt ist, besitzt nur eine verschwindend kleine
Minderheit das "grosse Geld", während eine Mehrheit der Menschen
dieser Minderheit Geld schuldet. Wie nun um alles in der Welt kann eine Mehrheit so blöd sein, einem
Gesetz zustimmen, welches sie verpflichtet, ein paar wenigen ihre enormen
Schulden zu bezahlen?! Ganz einfach. Die Geldherren haben das Schuldbetreibungsgesetz mit
einem plumpen Trick in die Seele des Volkes geschmuggelt: "Wer Geld hat,
braucht nicht zu arbeiten, sondern kann bequem von den Zinsen leben. Geld
aber könnt Ihr alle besitzen. Leiht Ihr es aus und zahlt Euch der Schuldner
weder Geld noch Zins, könnt Ihr ihn dazu zwingen. Voraussetzung ist
allerdings, dass ihr gegen das vom Parlament beschlossene
Schuldbetreibungsgesetz nicht das Referendum ergreift." Die Augen des Volkes begannen hoffnungsfroh zu leuchten. Endlich bot
sich die ersehnte Möglichkeit, dem Elend hienieden zu entrinnen. Wer hätte da
noch gegen das Gesetz sein können? Die Geldherren aber, die so redeten, waren sich nicht einen Augenblick
lang im Unklaren darüber, dass die Masse nie Geld haben würde, - weil nämlich
sie es schon besassen. Eine Absicht, das Geld unter das Volk zu streuen,
bestand nie. Gegenteils wurde und wird es wie die Augäpfel gehütet. In den
Tresoren aus Beton und Stahl liegt es tief unter der Erde. Portionenweise
wird es den Schuldnern als Kredite zur Verfügung gestellt. Bleibt einer mit
der Zins- oder Rückzahlung im Verzug, ist da der famose Betreibungsbeamte,
welcher dem Säumigen Beine macht. Das Schuldbetreibungsgesetz leistet den
Geldherren ausgezeichnete Dienste. Es hat die Funktionen der Vögte samt ihren
Landsknechten übernommen, welche ehedem den Zehnten einzutreiben
hatten. Das Ergebnis der kleinen Analyse liefert keine Gründe gegen die
Anarchie, sondern deckt lediglich die höchst selbstsüchtigen Interessen der
Plutokraten auf. Mit ihrer Geldmacht beherrschen sie die Menschen auf dieser
Welt. Stellt man einen Anarchisten und einen Plutokraten nebeneinander,
schneidet jener entschieden besser ab. Das Paradebeispiel des Anarchisten ist
der Bauer, der nur gerade zwischen seiner Hütte und seinem Stück Land hin-
und herpendelt, seine eigene Quelle oder Zisterne besitzt, an keine Strasse
oder elektrische Leitung angeschlossen ist und absolut keinen Handel
betreibt. Der Plutokrat kreditiert den Unternehmer, welcher die Hütte des
Anarchisten niederreissen und auf seinen Wiesen und Äckern eine Fabrik
erstellen lässt, welche die Organisation und Infrastruktur einer ganzen Stadt
und schliesslich der ganzen Welt bedingt. Es ist klar, dass das ausser den Plutokraten, den Unternehmern und
ihren profitierenden Lakaien eigentlich niemand will. Nieder also mit dem
Gesindel. Damit wird der Weg frei, Unseren Freistaat, wie Wir ihn meinen, zu
proklamieren. Dann wollen Wir mal. Es lebe unsere eigene Souveränität! In unserem Staat gibt es keine Könige und Untertanen, keine Herren und
Knechte, keine Direktoren und Untergebenen, keine Chefs und Angestellten,
kurz - keine Über- und Unterordnungsverhältnisse. Er zeichnet sich dadurch
aus, dass er dieses Papier, welches sich Verfassung nennt, nicht kennt. Warum
sich denn auch von einem solchen Fetzen in der unendlichen Vielfalt des
Lebens einschränken lassen? Was gestern galt, mag schon heute überholt sein.
Täglich hätten wir Papierchen aus- und einzureihen? Wir sind doch keine
Idioten! Unser Staatsgebiet ist von der Grösse einer Fusssohle. Ständig wandeln
sich die Grenzen unseres Reiches. Vom Neid unserer lieben Nachbarn bleiben
wir verschont. In der ganzen Menschheitsgeschichte ist kein einziger Krieg um
ein so kleines Territorium überliefert. Luftraum in seiner strategischen Bedeutung kennen wir nicht. Im
Verlaufe unseres Lebens schwillt sein Volumen langsam an, um dann wieder zu
schrumpfen und am Ende ganz zu verschwinden. Stattdessen beanspruchen wir für
die Zeitspanne unseres Vermoderns einen Platz unter der Erde. All das macht
uns ebenfalls niemand streitig. Wie gross unser Staatsvolk ist, lässt sich anhand der Beschreibung
unserer Grenzen nach der Seite und nach oben und unten leicht abschätzen. Wir
brauchen keine Zähler, Statistiker oder Rechenmaschinen: Ein Finger genügt. Bei einer solchen Unzahl Mensch sind die Chargen schnell verteilt.
König ohne Knecht, Knecht ohne König, ein bisschen Narr, ein bisschen Wicht,
ein bisschen von allem. Einen Finanzminister brauchen wir nicht. Wir arbeiten
nicht mit Geld, sondern mit Rumpf, Kopf, Händen und Füssen. Im Idealfall (auf die Realität werden wir noch zurückkommen) bauen wir
uns eine Hütte, schwingen wir die Hacke und fertigen wir Kleider. Handel
treiben wir prinzipiell keinen; denn da muss man bescheissen oder man wird
beschissen. Weil wir keinen Säbel besitzen, können wir damit auch nicht rasseln.
Unser Heer ist genau einen Mann stark, dito unsere Polizeitruppe. Im Krieg
werden wir entweder übersehen oder aber jede Armee zieht wieder ab, weil sie
sich vollkommen lächerlich machen würde, uns anzugreifen. Unsere Fusssohle
reizt niemanden, zu verteidigen haben wir nichts. Die Drohung, unsere Frau
würde vergewaltigt und unser Kind geschändet, beeindruckt uns nicht. Wer uns
erobern will, muss keine Soldaten monatelang in den Kasernen schinden, um so
ihre primitivsten Instinkte auf Weissglut zu steigern. Unser Teilzeitminister für auswärtige Angelegenheiten kennt kein Protokoll.
Die Begegnung mit Angehörigen fremder Staaten, seien sie gleich gross, wie
der unsere oder grösser, wird von Fall zu Fall geregelt. Wer bei uns das
Gastrecht erwirbt, hat auch einen Freund gewonnen. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, einen gewaltsamen Tod zu
erleiden. Was kümmert's uns. Mit einem friedlichen Sterben erreichen wir die
Ewigkeit jedenfalls nicht eher. Die Realität Wir haben zweifellos eine ziemlich abgefeimte Staatsräson. Auch wenn
uns noch irgendwer als Bürger beanspruchen sollte, wäre mit uns jedenfalls
kein Staat zu machen. Wie wir so durch alle Stürme und Flauten des Lebens schaukeln, bleibt
jedoch ziemlich unklar. Es tönt alles ein wenig nach Urwald, untauglich für
das dritte Jahrtausend. Die Praxis wollen wir mit ein paar biographischen Notizen erläutern. Das Kaff Tatsächlich sind wir nicht als Höhlenbewohner oder Pfahlbauer geboren
worden. Das Licht der Welt haben wir mitten im zweiten Weltkrieg in einem
Weiler erblickt, welcher in 47° nördlicher Breite und 8° östlicher Länge
liegt. Ohne unser damaliges oder zukünftiges Einverständnis in Betracht zu
ziehen, wurden wir in eine Kirche geschleppt, mit Wasser bespritzt und
obendrein in ein kommunales Register eingeschrieben. Wir galten fortan als
römisch-katholischer Untertan der helvetischen Plutokratie. Was das heisst,
sollten wir ein rundes Vierteljahrhundert lang zu spüren bekommen. Nachher
haben wir uns zuerst innerlich und alsbald auch formell von den geistlichen
und weltlichen Herren losgesagt. Da wir jetzt gerade etwas mehr als ein
halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben, ist leicht auszurechnen, dass wir je
die Hälfte unseres bisherigen Lebens unter fremder und eigener Herrschaft
verbracht haben. Der Grossvater mütterlicherseits war Schulmeister, der Grossvater
väterlicherseits war Schulmeister, der Vater war Schulmeister, die Mutter war
Schulmeisterin. Wir sind vom ersten Tag an in die Schule gegangen. Oh Herrjemine! In unserem Bauernkaff waren das halbe Dutzend Höfe und die Käserei um
die Kirche gruppiert. Eine Wirtschaft rundete das Dorfbild
ab. Eine Apotheke gab es nicht, sodass wohl der Wirt, der Pfaff und der
Lehrer die traditionellen drei Mächte - Wirtschaft, Kirche und Staat -
vertreten haben. Von Gewaltentrennung keine Spur. Wir wissen positiv, dass
unser beamteter Vater eifrig sowohl die Kirche als auch die Wirtschaft
frequentiert hat. Unser Vaterhaus war - es ist nun einmal so - das Schulhaus, welches
allein auf weiter Flur inmitten der Landschaft lag. Es diente gleichzeitig
den Kindern unseres, wie auch eines etwas entfernter liegenden Weilers als
Stätte, in welcher die Plutokraten samt Unternehmern auf Kosten des Volkes
ihr zukünftiges Personal ausbilden liessen. Das haben wir damals allerdings
noch nicht gewusst. Unsere Mutter war für die Erst- bis Dritt-, der Vater für die Viert-
bis Sechstklässler angeheuert worden. Die Mutter machte der Obrigkeit einen
Strich durch die Rechnung, indem sie innert neun Jahren acht Kinder in die
Welt warf. Sie wurde durch zwei Klosterfrauen ersetzt, welche ebenfalls im
Schulhaus wohnten und eifrig darüber mitwachten, uns auf die herrschende
Zucht und Ordnung festzunageln. Im Beichtstuhl bat unsere Mutter, nachdem das Ausmass des Kindersegens
sich abzuzeichnen begann, um die Erlaubnis, die gängigen
empfängnisverhütenden Praktiken anwenden zu dürfen. Die Bitte wurde
abgeschlagen. Unsere ersten Eindrücke sind das graue, stinkende Gebäude, der Frühling
mit den blühenden Wiesen und die Landstrasse. Dort rollte die grosse Welt
vorbei: Pferdefuhrwerke und als einziges motorisiertes Gefährt der Lastwagen
der "Papieri", so wurde die etwa fünf Kilometer entfernte
Papierfabrik genannt. In periodischen Abständen rumpelte die mit einem
Metallfass beladene Karre über die Naturstrasse. Aus einem gelöcherten
Eisenrohr flossen die bei der Papierherstellung verwendeten Chemikalien.
Zuvor war die Brühe in den Fluss neben der Fabrik gelenkt worden. Das beobachtete
Fischsterben drängte die neue Entsorgungsart auf. Die Direktoren werden sich
gedacht haben, sie sei weniger aufsehenerregend und erst noch dazu nütze, das
Unkraut der Strasse zu vertilgen. Wir haben uns in den sich bildenden Giftpfützen gewälzt. Es mag sein,
dass die Bäder uns geholfen haben, das Joch der Herren abzuwerfen. Unser Vater meisterte nicht nur die Schule, sondern verteidigte zur
Freude seiner deswegen Schulfreiheit geniessenden Schüler auch sein
Vaterland. Sein Klassenzimmer wurde im Jahr unserer Zeugung als Quartier
polnischer Flüchtlinge benutzt. Unsere Mutter hat zeitlebens von einem
polnischen Offizier geschwärmt, sodass eine doppelte Vaterschaft durchaus
nicht auszuschliessen ist. Wir hätten folglich einen Register- und einen leiblichen
Vater. Nach polnischem Recht wären wir vor unserer Unabhängigkeitserklärung
Pole, nach schweizerischem Schweizer gewesen. Da haben wir den Salat! Die enthaltsamen Nonnen und unser zeugungs- und gebärfreudiges
Elternpaar passten schlecht zusammen. Es kam zum letzten Krach, weil - ich
weiss nicht, wer von uns acht der Täter gewesen ist - sich der Inhalt eines
aus dem Fenster geschütteten Nachttopfes auf die Haube der einen ergoss. Das Dorf Unser Vater wurde ins Dorf mit der Papierfabrik versetzt. Früher hatte
sich dort auch eine Milchverarbeitungsfabrik befunden, welche einem heute
weltweit operierenden Lebensmittelmulti gehörte. Diese Information soll den
geplagten Lesern ersparen, auf der Landkarte nachzumessen, wo denn unser
Geburtsort liegt. Wir waren just reif, in den Kindergarten geschickt zu werden. Eines
Tages fehlte das in der Garderobe aufgehängte Täschchen eines Kamerädleins.
Unsere Hortnerin kündigte an, am nächsten Tag werde der Polizist kommen, um
den Diebstahl zu untersuchen. An jenem Morgen verabschiedeten wir uns wie
gewöhnlich von unserer Mutter. Auf halbem Weg zum Kindergarten versteckten
wir uns in einer Buschhecke, warteten dort die Zeit der Heimkehr ab und taten
zuhause, als ob wir den Hort besucht hätten. Wiewohl wir die Tat nicht
begangen hatten, spornte bereits die Aussicht, dem Landjäger zu begegnen, zu
diesem ungewöhnlichen Verhalten an. Die Drohungen mit ihm, dem Verrückten,
der uns holen werde, der Hölle und weiss der Kuckuck, mit was noch allem,
gehörten zur Tagesordnung und haben unsere zarte Kinderseele unausweichlich
auf den Pfad höchster "Tugend" geleitet. Die herrschende Moral verbat unserem Vater, die Ehe zu brechen. Also
traf er sich heimlich mit seinen Mätressen. Um keinen Verdacht bei unserer
Mutter zu wecken, nahm er auch uns mit. Wir wurden von überaus
liebenswürdigen Frauen mit Bonbons, Lese- und Bastelzeug ausgestattet. Es
blieb uns schleierhaft, warum die Damen nach den lebhaft geschätzten
Freundlichkeiten derart unhöflich sein konnten, uns einfach sitzen zu lassen
und mit unserem Vater für eine Weile zu verschwinden. Wir verstanden die
Zusammenhänge auch dann noch nicht, als wir im Jünglingsalter von einem
Richter über solche Einzelheiten ausgefragt worden sind. Zum Prozess war es gekommen, weil unsere Mutter den Vater in
flagranti im Bett einer anderen, jüngeren erwischt hatte und weil ihm in
seiner antrainierten Phantasielosigkeit nichts Gescheiteres eingefallen ist,
als auf Scheidung zu klagen. Die erste Instanz lehnte die Klage ab. Die
zweite hiess sie gut. Die dritte liess die Sache an die zweite zurückgehen.
Die zweite bestätigte ihr Urteil. Die dritte wies die Klage endgültig ab.
Fünf Jahre hatte der Kampf gedauert, die Mutter den Prozess gewonnen und
ihren Mann verloren. Sie hat den Umstand weidlich ausgenutzt, dass die offizielle Moral ihr
Recht gab und unseren Vater ins Unrecht versetzte. Fleissig antichambrierte
sie beim Pfarrer und beim Schulpräsidenten. Die Lage unseres Vaters wurde
unmöglich. Er ertrug das tägliche Spiessrutenlaufen nicht mehr, trennte sich
von unserer Mutter, quittierte den Dienst im Dorf, zügelte in die anonyme
Grossstadt und schulmeisterte dort weiter. Für die Dauer des Prozesses wurde
die Familie genau halbiert. Ein Bub und drei Mädchen wurden dem Vater, ein
Mädchen zwei Buben und wir der Mutter zugeteilt. Sie zog ebenfalls fort und
liess sich in einem Bergdorf als Lehrerin anstellen. Uns internierte sie in
einer Klosterschule. Zur Ehrenrettung unserer Eltern sei gesagt, dass sie ja nicht eigene
Werte umgesetzt haben, sondern von der hirnverbrannten Moral rücksichts-,
skrupel- und gnadenloser Herren durchtränkt waren. Auf Kommando deren Sklaven
heranzüchten und eine achtköpfige Kinderschar durchschleusen zu müssen, war
beileibe alles andere als ein Schleck. Die Erziehungsanstalt Um die Bestialität der deutschen Soldaten zu verstehen, muss man den
Kasernendrill kennen, welchem sie unterworfen gewesen sind. Die
schweizerische Plutokratie erklärt sich am besten mit der Beschreibung ihrer
Erziehungsanstalten. Das Knabeninternat, welches uns aufschluckt, ist auf einen
achtjährigen Aufenthalt der Zöglinge ausgelegt. Wir treten im letzten
Trimester in die zweite Klasse ein und geraten alsogleich in den Strudel
einer unerhörten Büffelei. Es gibt kein Fach, welches nicht auf dem Programm
steht. Eine Prüfung jagt die andere, am Ende eines jeden Schuljahres wird der
gesamte Stoff noch einmal examiniert. Der Tag beginnt im Sommer um halb sechs, im Winter um sechs mit dem
alle Träume radikal verscheuchenden Schrillen der in den Schlafsälen und
übrigen Teilen des Gebäudes innen und aussen installierten Glocken. Ein
Aufseher sorgt dafür, dass die schlaftrunkene Bubenschar sich vollzählig an
den Waschanlagen versammelt. Glocke. In der Kapelle wird die Messe gefeiert. Jeder
kniet auf seinem Platz. Nach einigen Monaten beherrschen wir die Kunst, das
quälende Schlafbedürfnis zu lindern, indem wir uns auf der oberen Leiste der
Bank in die Ellenbogen stützen, den Körper nach vorne kippen und so
wenigstens - zwar ungemütlich, aber immerhin - dösen können. In dieser
Position warten wir sehnsuchtsvoll auf das das baldige Ende der Zeremonien
ankündigende Sanctus. Der Tortur über ein Schwänzen zu entgehen, ist
ausgeschlossen. Die im Rücken postierte Aufsicht kann leicht jede Lücke in
den Reihen ausmachen. Glocke. Erstes halbstündiges Studium im gleichnamigen
Saal. Glocke. Die Herde strömt zum Frühstück in die Esssäle. Glocke. Die
erste Schulstunde beginnt. Glocke. Es folgen die zweite, Glocke, die Pause,
Glocke, die dritte, Glocke, die vierte, in welcher wir die halben Sekunden
zählen, Glocke, das Mittagessen, die Rekreation, Glocke, das zweite
halbstündige Studium, Glocke, die erste Schulstunde des Nachmittags, Glocke,
die zweite, Glocke, das Zvieri, Glocke, das "grosse", zweieinhalbstündige
Studium, Glocke, kurze Pause, Glocke, Fortsetzung des Studiums, Glocke,
Abendessen, Rekreation, Glocke, letztes halbstündiges Studium, Glocke,
Abendandacht in der Kapelle, sofort anschliessend Waschsaal, Schlafsaal, 2115
Uhr Lichterlöschen. Am Dienstag und Donnerstag fallen die beiden Schulstunden
am Nachmittag aus, ansonsten volles Programm. Sonntag ist schulfrei,
zusätzliche lange Messe am Vormittag in der Klosterkirche mit Predigt,
nachmittags geführter Spaziergang in Zweierkolonne und mit Mütze, grosses
Studium. Es war strengstens verboten, sich unerlaubt aus dem Anstaltsareal zu
entfernen oder gar Beziehungen zum anderen Geschlecht anzuknüpfen. Wer
erwischt wurde, erhielt das consilium abeundi, den "Rat",
die Schule zu verlassen. Einmal im Jahr wurden Exerzitien abgehalten. Drei Tage lang striktes silentium,
Verpflichtung, sich der Lektüre von "erbaulichen" Büchern zu
widmen, welche aus einer speziellen Bibliothek abgegeben wurden, pausenlos
Predigten und Vorträge von auswärtigen Referenten. Wir erinnern uns an
Pfarrer S., der hemdsärmelig schilderte, wie er vor seiner
"Berufung" zum Priester eine Metzgerlehre absolviert und die
Anfechtungen, Unkeusches zu tun, überwunden hatte, indem er ein Bündel
Brennnesseln über seinen nackten Körper schwang. Drastisch wurde uns so das
Bewusstsein unserer eigenen Schuld und Sündhaftigkeit eingebläut. Aber
nächtens nackt durch die Gänge zu streichen und draussen, besonders im
Winter, nach Brennnesseln zu suchen, getrauten wir uns nicht. So sündigten
wir halt weiter und erduldeten obendrein die Qualen und Leiden unserer
schweren Schuld und Unvollkommenheit. Bauernleben Unsere sämtlichen Ferien, welche in der Anstalt vier Monate dauerten,
haben wir bei Bauern verbracht. Das war noch knapp, bevor die Bauernhöfe in
kleinere oder grössere Maschinenfabriken umfunktioniert worden waren.
Immerhin hatte ein Bauer schon damals - neben seiner eigenen - vier Familien
in der Stadt zu ernähren, damit diese ihr Potential ungeschmälert in den
Dienst der Plutokraten stellen konnten. Wiewohl also auch wir viermal zu viel
arbeiteten, als eigentlich nötig gewesen wäre, zählten wir in der Anstalt
jeweils wie ein Schwerverbrecher die Monate, Wochen, Tage, Stunden und
Minuten, bis wir aufs Land abhauen konnten. Heute muss ein Schweizer Bauer, statistisch gesehen, die Mäuler von
zwanzig Städtern stopfen. Die Konsumenten müssen allerdings mitnichten
Schweizer sein. Die Plutokraten karren, schiffen und fliegen seine Produkte
rund um die Kugel. Noch die sinnlosesten Transporte eignen sich, aus ihnen
die Mittel für die Beherrschung der ganzen Welt zu schlagen. So fressen die
Europäer, Amerikaner, Asiaten, Afrikaner und Australier Schweizerkäse und die
Schweizer Käse aus Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien. Die nächste Erziehungsanstalt! Nach den Mönchen vollendeten Universitätsprofessoren der Jurisprudenz
das Werk unserer Erziehung. Über der Wilhelmtell-, Morgarten- und
Sempachschweiz begannen die Sterne der Freiheit, der Demokratie und des
Rechtsstaates zu leuchten. In unserer Seele blieb es dunkel. Wie schon die fünfzehn Jahre davor hatten wir – statt unseren
natürlichen Bewegungstrieb auszutoben – auf Schulbänken zu kleben. Die
Atmosphäre in den Hörsälen war unerträglich. Gegen die trocken servierte
Theorie verweigerte sich unser Organismus korrekt mit unbezwingbarem
bleiernem Schlaf. Wir versuchten, uns auf eigene Faust kundig zu machen, stöberten in
der Bibliothek des juristischen Seminars herum und griffen uns aus den
immensen Regalen einen Bundesgerichtsentscheid heraus. Hilfe - die Chinesen haben uns erobert! Die abstrakte Hirnakrobatik war nicht nur schlicht unverständlich,
sondern auch ungeniessbar. Kein Wunder, dass – wenn Juristen unter sich sind –
deren Ehefrauen durch Abwesenheit brillieren. Das Geschwätz ist nicht zum
Aushalten. Wir sannen nach einer Methode, um uns nach all den schon
eingetrichterten Fremdsprachen die neue auf elegantere Weise anzueignen,
bewarben uns – was für einen Studenten ungewöhnlich war – auf einem
Landgericht als Gehilfe des Gerichtsschreibers, wurden angenommen und
erhielten so unversehens ungeschminkten Einblick in die kunterbunte
Justizküche. Unsere Aufgabe bestand darin, die Verhandlungen
mitzustenographieren, die Protokolle ins Reine zu schreiben und die Urteile
zu redigieren. Der Stoff fing an zu garen. Eines Nachmittags, die Richter hatten wie üblich im Wirtshaus zu einem
guten Tropfen Roten gespiesen und das obligate Jässchen geklopft, wurde ein
Scheidungsfall verhandelt. Die Anwälte wuschen die dreckige Wäsche der
Parteien. Wir schrieben eifrig mit. Was hören wir da!? Laut und deutlich schnarcht der dienstälteste
Richter in den Saal hinaus. Es ist uns nicht ganz gelungen, die gesetzlich vorgeschriebene Würde
des Gerichts zu wahren und die bedrohlichen Schwankungen unserer
Bauchmuskulatur zu zähmen. Einer seiner Kollegen beendete das unbezahlbare
Spektakel, indem er unter dem Vorwand, das Fenster zu öffnen, am
Schnarchenden vorbei strich und ihm einen heftigen Schlag in den Rücken
versetzte. Von nun haben wir die graue Theorie auf Anhieb verstanden und wir
konnten – zurück in der alma mater - uns zu den wenigen zählen, welche
eine vom Dozenten in die Runde gestreute Frage zu beantworten wussten. Mit
dem bestandenen Examen haben wir uns des ein ganzes Studium über uns
hängenden und unser Leben vergällenden Damoklesschwertes entledigt. Taxichauffeur Unsere „Ausbildung“ haben wir - neben anderen Jobs - vor allem als
Taxifahrer finanziert. Für kürzere oder längere Zeit hatten wir, eingepfercht
in diesen Blechkisten, mit Menschen aus allen Schichten und Herren Länder zu
tun: vom Direktor, der sich noch keinen eigenen Chauffeur leisten durfte, bis
zum Stinkbesoffenen, der uns sein Elend in die Karre kotzte. Entlassen! Quo vadis? Wie wir beobachten konnten, haben unsere Leidensgenossen das
Auseinanderklaffen zwischen gepredigtem Ideal und rabenschwarzer Wirklichkeit
unter anderem mit den Saufritualen in den Studentenburschenschaften
überbrückt. Sie sind zu treuen Staatsdienern avanciert. Uns lag diese Betäubungsstrategie nicht. Wohl sind auch wir zur Orgie
geschleppt worden. Den peitschenden Trinkbefehlen haben wir uns jedoch
widersetzt. Unsere Verweigerung bedeutete den Ausschluss aus der Gruppe. Das war
unser Glück. Statt unsere Zeit damit zu vergeuden, in der Herde zu
marschieren und sowohl zivil wie militärisch Karriere zu machen, zogen wir
uns mit dem erklärten Ziel, ausschliesslich über die Zukunft nachzudenken,
ein ganzes Jahr zurück. Das erste halbe Jahr verbrachten wir in einer
Alphütte, wo wir den ersten Grundsatz unseres entstehenden Freistaates
entwickelten: Die Nase in alles hineinzustecken. Zuerst heuerten wir, um das für das Anwaltsexamen vorgeschriebene
einjährige Praktikum nachweisen zu können, beim erzkonservativen Gericht
einer Provinzstadt erneut als Gehilfe des Gerichtsschreibers an. Den
Gepflogenheiten gemäss wollte uns dieser zu jedem einzelnen Richter und dem
übrigen Personal führen, um uns vorzustellen. Wir erklärten ihm alsogleich,
dass er sich das sparen könne. Wir würden uns selber vorstellen. Gesagt,
getan. Die von uns heimgesuchten Richter reagierten leicht betreten bis
verwundert. Das niedere Kanzleipersonal freute sich spontan. Am dritten Tag
eröffnete uns der Gerichtspräsident, es sei wohl das Beste, wenn wir wieder
gingen. Dank unseres wohldurchdachten Planes waren wir flexibel genug, ihm
seine Idee wieder aus dem Kopf zu schlagen. Nach einem halben Jahr bestellte er uns in sein Präsidentenzimmer. Um
die Wichtigkeit des Anlasses zu unterstreichen, sass auch der Vizepräsident
am grossen Sitzungstisch. Es wurde uns vorgeworfen, unsere Arbeitsmoral sei
schlecht, weil wir morgens regelmässig unpünktlich seien. Das stimme,
erklärten wir ohne Zögern, wir würden nämlich aus Prinzip keinen Wecker
benützen, sodass wir immer ausgeschlafen ans Gericht kämen. Im Übrigen sei
die Arbeitsmoral der Richter schlecht. Ihre Pünktlichkeit führe dazu, dass
sie schon am morgen früh mit ihren Fehlentscheiden das Schicksal der
Verurteilten verschlimmerten. Es wäre daher nur von Vorteil, wenn auch sie
sich verspäten würden. Beide machten einen verdatterten Eindruck. Der Präsident reagierte wie
ein Bilderbuchjurist: Er wies den Vorwurf, eine schlechte Arbeitsmoral zu
besitzen, energisch zurück. Uns sofort fristlos zu entlassen, kam weder ihm
noch dem Vize in den Sinn. Sie standen zu sehr unter dem Eindruck unserer
Worte. Wir halfen dem Gericht aus der Patsche, indem wir uns ein paar Tage
später selbst verabschiedeten. Nach unseren Berechnungen hatten wir die für
das Anwaltsexamen erforderliche Praxiszeit abgesessen. Das hat sich dann
allerdings als Trugschluss erwiesen. Als nächstes nahmen wir eine kleinere und die grösste Versicherungsgesellschaft
sowie den grössten Warenproduzenten und -verteiler der Schweiz aufs Korn. Drei Jahre insgesamt studierten wir minutiös, unverfroren, ohne Scheu
und Skrupel die Gedärme der helvetischen Plutokratie. Wir leisteten uns den
Luxus, uns an der weltberühmten Eidgenössischen Technischen Hochschule ein
weiteres Jahr lang sämtliche Disziplinen einer Universität vorführen zu
lassen und schlossen unsere Schnüffelei mit einem halbjährigen Praktikum in
der schweizerischen "Entwicklungshilfe" in Afrika ab. Was die
Qualität dieser Hilfe anbelangt, genügt es anzumerken, dass die Schweiz
darunter auch die Geschäftstätigkeit seiner Plutokraten in der
"Dritten" Welt versteht. Das stimmt! Wir haben die Verführung und schamlose Ausbeutung der Urwaldmenschen
mit eigenen Augen gesehen. "Gib mir einen festen Punkt..." Wir hatten alles geprüft und kannten sämtliche Gesetze der
helvetischen Plutokratie. Nicht ein einziges haben wir für gut befunden. In
einem Staat leben zu müssen, in welchem jedes Gesetz gegen Dich ist, bedeutet
harte Knochenarbeit. Wir dachten keinen Augenblick daran, uns zu unterwerfen,
sondern suchten nach einer Lebensform, in welcher wir uns selbst
verwirklichen und gleichzeitig effizient Widerstand leisten konnten. Da jedes
Herrschaftssystem jegliche Art von Widerstand erbarmungslos bekämpft, mussten
wir schlau, auf der Hut sein und mit allem, auch dem Schlimmsten, rechnen. Das Burgtor der helvetischen Plutokratie hängt in zwei mächtigen
Angeln: der Strafjustiz und der Zwangspsychiatrie. Unseren Hebel hatten wir
dort anzusetzen. Die Strafjustiz sichert die Eigentumsordnung der Plutokraten ab. Wer
den Tresor knackt, landet im Gefängnis. Auch das Strafgesetz ist dem Volk mit
dem ewig gleichen Trick untergejubelt worden: Die wenigen Eigentümer haben
ihm vorgegaukelt, jeder könne Eigentum erwerben und damit an der Macht des
Eigentums teilhaben. Allerdings müssten, so machten sie ihm weise, die Diebe
mit den Drohungen und Sanktionen des Strafgesetzes abgeschreckt werden.
Verschwiegen haben sie ihm, dass sie bereits alles Eigentum besassen. Wer
auch nur ein kleines Portiönchen davon wollte oder will, wird sofort in ihr
Spinnennetz gefangen. Nehmen wir als Beispiel den Besitz eines Hauses. Ein Habenichts hat
nicht die geringste Chance, ein solches zu kaufen, wenn er nicht zuvor in die
Bank der Plutokraten geht und sich dort einen Kredit geben lässt. Der Zins
ist so bemessen, dass aus dem Kreditschuldner in Perioden von rund fünfzehn
Jahren der volle Kreditbetrag tropft und er gleichwohl noch die volle Summe
schuldet. Weil seine übrigen Verpflichtungen seinen gesamten Lohn auffressen,
kann er den Kredit nie tilgen. Folglich zinst er ein ganzes Leben lang und
vererbt seinen Nachkommen erst noch Schuld und Zinspflicht, sodass auch diese
lebenslänglich angekettet bleiben. "Das Strafgesetz schützt Euer Leben und Eure Gesundheit",
haben die Plutokraten das Volk gegängelt. Die Heerscharen, welche in ihren
gefährlichen Fabriken und übrigen Unternehmungen, mit den von ihnen
produzierten Vehikeln auf den Strassen und in den von ihnen durchgeboxten
Anstalten ums Leben gebracht oder verkrüppelt worden sind und werden,
beweisen das Gegenteil. Das Strafgesetz dient den Plutokraten als Vorwand für
den mächtigen Polizei- und Justizapparat, mit welchem sie in erster Linie ihr
eigenes Leben, ihr Eigentum und ihre Ordnung bewachen lassen. Das Volk
verschieben sie wie Zinn im Sandkasten. Wie sehr sie ihm mit ihrer Propaganda die Augen verdreht haben, lässt sich
an der Reaktion abschätzen, wenn ein Polizist einen Geldräuber über den
Haufen schiesst. Obwohl der Räuber auf offensichtliche Art genau das tut, was
die Plutokraten heimlich treiben, findet der gewöhnliche Bürger, es geschehe
ihm recht. Noch perfekter als die Strafjustiz befestigt die Zwangspsychiatrie das
Bollwerk der Plutokraten. Wer sich nicht anpasst oder sich ihrer Ordnung
verweigert, wird zum Geisteskranken erklärt, in eine Anstalt gesperrt und
dort gefoltert. Da praktisch aus jedem Verhalten und jeder Äusserung eine
Geisteskrankheit konstruiert werden kann, besitzt die Zwangspsychiatrie den
absoluten Freibrief. Wenn sich einer gar erdreistet, das Gegenteil zu
behaupten, nämlich nicht geisteskrank zu sein, wird ihm Uneinsichtigkeit
attestiert. Die Uneinsichtigkeit wiederum wird als wesentliches Merkmal für
die diagnostizierte Geisteskrankheit bewertet: eine teuflische Falle. Wir haben uns in der helvetischen Plutokratie als Verteidiger der
Straf-, psychiatrisch und übrigen Verfolgten eingenistet. Anwaltskollektiv Mit vier GesinnungsgenossInnen und ebenso vielen Prinzipien gründeten
wir vor knapp zwei Jahrzehnten in der Finanzmetropole der helvetischen
Plutokraten das berüchtigte Anwaltskollektiv: Alle Mitglieder hatten gleiche Rechte
und Pflichten, wir verteidigten nie einen wirtschaftlich Stärkeren gegen
einen wirtschaftlich Schwächeren, unser Honorar war den sozialen
Gegebenheiten unserer Klientschaft angepasst und jedermann/frau konnte
unangemeldet zu uns kommen, um sich beraten lassen. Wir zogen sofort die Scharen der Straf-, psychiatrisch und übrigen
Verfolgten, die von den Plutokraten gebeutelten
"ArbeitnehmerInnen", MieterInnen und selbstverständlich die
zuständigen Anwaltswächter an, welche uns wegen "aufdringlicher Empfehlung"
zu saftigen Geldstrafen verdonnerten. Das Katz- und Mausspiel mit den Plutokraten und ihren Ministranten
hatte begonnen. Die Jagdgründe waren unerschöpflich. Ununterbrochen hetzten
wir in den Angelegenheiten unserer zahlreichen KlientInnen und in eigener
Sache hinter den Potentaten und sie mit ihren Ministranten hinter uns her. Da wir unsere Pappenheimer bald einmal bis aufs Mark der Knochen
kennen gelernt hatten, konnten wir unsere Risiken wohl abschätzen und
haarscharf an und über der Grenze so operieren, dass sich Erfolg und
Misserfolg stets die Waage hielten. Nach jahrzehntelanger Erprobung wurde der
Satz, "es ist schlecht, immer zu verlieren, aber es ist ebenso schlecht,
immer zu gewinnen" unserer Staatsräson einverleibt. Bemerkten wir ein
Überborden der Erfolge, achteten wir pedantisch darauf, verlorene Prozesse
hinzunehmen und nicht mehr zu versuchen, sie mit einem weiteren Kniff doch
noch zu gewinnen. In den beiden Erziehungsanstalten hatten wir Respekt und Anstand mit
traumwandlerischer Sicherheit zu beherrschen gelernt. Eiserner Bestandteil
unserer Staatspolitik wurde die Respekt- und Anstandslosigkeit, welche wir
auf ekelhafte Weise zu kultivieren begannen. In präzisen Dosen verspritzten
wir davon gerade so viel, dass es übel vermerkt werden musste und doch nicht
genügte, disziplinarisch gegen uns einzuschreiten. Gottseidank waren wir
jedoch alles andere als perfekt, sodass es gleichwohl Disziplinar- und andere
Verfahren gegen uns nur so gehagelt hat. Juristen pflegen sich mit Herr oder Frau Kollega anzusprechen. Wir
nannten alle obstinat beim Namen oder fragten, wenn wir ihn nicht kannten,
zuerst nach ihm. Zu den Insignien von Justiz und Anwaltschaft zählen Anzug und
Krawatte. Wir kamen mit allen anderen Kleidungsstücken, nur nicht mit diesen
an die Verhandlungen. Einmal wären wir deswegen beinahe im Knast gelandet. Ein Dealer aus
besseren Kreisen war von der helvetischen Justiz angeklagt worden, er habe
den inländischen Drogenmarkt mit der Einfuhr eines Kilos Heroin konkurrenziert.
Unser Klient wurde in Schale, Krawatte, Lackschuhen und Handschellen von zwei
Polizisten in den Gerichtssaal geführt. Wir erschienen in unserer obligaten
Lotterkluft. Die Debatten zogen sich in die Länge und die Zeit des
Mittagessens. Die beiden im Saal auf den Zuschauerrängen wachenden Polizisten
wurden von zwei Kollegen abgelöst. Unsere Verteidigungsrede hatten wir
bereits beendet, gelangweilt lümmelten wir auf einem Stuhl herum, derweil
unser Klient mit den justizkonformen Gebärden in perfekter Aussprache,
Schale, Krawatte, Lackschuhen und ungefesselt sein letztes Wort hielt.
Vergeblich. Das Urteil lautete schuldig, der Präsident erklärte die
Verhandlung für geschlossen, unser Klient schritt feierlich zum Saal hinaus,
wir packten unsere Mappe und die beiden neuen Polizisten bewachten uns
hautnah auf Schritt und Tritt. Für sie waren wir der Täter. Erst als der
Präsident sie in heller Aufregung auf die Verwechslung aufmerksam gemacht
hatte - nid dä, der ander döt! -, wetzten sie hinter unserem Klienten
her und konnten ihn gerade noch vor dem Gerichtsportal in Ketten legen. Die Anwälte sind, jedenfalls am oberen Gericht, gehalten, sich der
Schriftsprache zu bedienen. Schon bei unserem ersten Auftritt machten wir
ausdrücklich klar, dass wir reden würden, wie uns der Schnabel gewachsen sei.
Wir bedienten uns nach Belieben der Mundart und pflegten obendrein die freie
Rede. Eine Eröffnung mit dem "sehr geehrter Herr Präsident Komma sehr
geehrte Herren Richter Komma sehr geehrte Frau Gerichtsschreiberin" konnte
uns nie und nimmer unterlaufen, weshalb wir auch nicht, wie jener
unglückselige Herr Kollega, nach Entdecken des Lapsus mit einem verlegenen
Lächeln und Verständnis erheischenden Zucken der Achseln reagieren mussten.
Wir weigerten uns ganz einfach, unsere Reden samt den Interpunktionen in ein
Tonband zu diktieren und alsbald einer Sekretärin zu befehlen, sie fehlerfrei
zu Papier zu bringen. Wir benutzten gar keine Sekretärin. Unsere Stegreifreden und die damit verbundene persönliche Präsenz wurden
in einer Justizwelt, welche die direkte Konfrontation mit dem Elend der
"Gewaltunterworfenen" schlecht ertrug und deshalb den reinen,
ausschliesslich schriftlichen und damit geheimen Aktenprozess angestrebt und
grösstenteils verwirklicht hatte, überhaupt nicht geschätzt. Gerade deswegen
verlangten wir konsequent die unbequeme mündliche, öffentliche Verhandlung. Nicht dass wir etwa ein brillanter Redner wären. Wir hatten mit
Absicht nie eine Sprechschule besucht oder uns in Diktion geübt. Im Gegensatz
zu unseren Schriften, in welchen wir den in unserer Anstaltszeit
eingelagerten Mist und Mumpitz mit Fleiss umsetzen, sind unsere Reden
eigenartig, leberfrisch, donnernd oder schleppend, unberechenbar und
verkehrt. Was einzig zählt, ist die Tat. Worte anerkennen wir lediglich als
Abfallprodukt einer solchen Tat. Die Tat eines Anwaltes besteht darin, dass
er seinen Klient in den Anstalten besucht, sich mit ihm verbündet, sich in
den Verhören und Verhandlungen neben ihn stellt, seinen Standpunkt dem Standpunkt
seiner Kontrahenten energisch entgegenstemmt, so dass er ein sicheres Gefühl
bekommt und sich ein selbstbewussteres Verhalten leisten kann, als wenn er
mutterseelenallein gegen die Phalanx seiner Häscher anzutreten hat. Die Scharmützel mit den Staats- und Justizgewaltigen waren unser
täglich Brot. In einem unserer ersten Plädoyers wurden wir schon nach wenigen
Sätzen vom Präsidenten aufgefordert, zur Sache zu kommen. Prompt fiel auf ihn
zurück, dass wir in der Erziehungsanstalt mit römischer Literatur malträtiert
worden waren. Wir konterten, sein Einwand erinnere uns an Tacitus, der schon
vor zweitausend Jahren in seinem Traktat De orationibus von jenen
Richtern gesprochen habe, die es mehr mit Macht und Gewalt, denn mit Recht
und Gerechtigkeit gehalten und welche den Verteidiger aufgefordert hätten,
zur Sache zu kommen. Habe dieser aber noch immer nicht zur Sache kommen
wollen, hätten sie ungeduldig bemerkt, sie hätten es eilig. "Von Ihnen,
Herr Meier, haben wir jetzt gerade gehört, wir müssten zur Sache kommen.
Jetzt warten wir nur noch darauf, dass Sie uns sagen, Sie hätten es
eilig." Alsbald haben wir ungestört weiter palavert. Die Präsidenten waren
nicht zu beneiden. Wohl verstanden sie es, eine Verhandlung zu leiten und die
üblichen Sprüchlein herunterzuleiern. Der Satz, "kommen Sie zur
Sache!", genügte in der Regel auch vollauf, um eine eilfertige
Entschuldigung des Verteidigers auszulösen. Darauf aber, dass dieser
zurückschlug, waren sie meist nicht gefasst und deshalb überfordert, den
Schlagabtausch fortzusetzen. Wir jedoch übten konsequent das Pingpong-Spiel. Gegen die
hartnäckigeren unter den Präsidenten, welche auch nach unseren
Zurechtweisungen keine Ruhe geben wollten, fiel uns immer wieder irgendetwas
Verzwicktes ein: "Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Sie uns eine
Ordnungsbusse aufbrummen oder Anzeige bei den Anwaltswächtern erstatten
können. Wir werden dann im entsprechenden Rechtsmittelverfahren überprüfen
lassen, ob Sie hier nicht einen ausgesprochenen Parteistandpunkt vertreten".
Nur selten wurden wir zum Satz gezwungen: "Sie können uns ja das Wort
entziehen. Dann allerdings platzt die Verhandlung!" Keiner wagte es. Heute reden wir, wenn es Uns gefällt, über die Stunde hinaus und
verlangen seelenruhig einen weiteren Termin zwecks Fortsetzung der
Verhandlung. Unterbrechungen durch die Präsidenten sind uns höchst willkommen
geworden, ja wir ermuntern sie gar dazu: "Es ist doch besser, in einen
Dialog zu treten, als dass wir in diesem modrigen Gerichtssaal dazu verdammt
sind, unsere perversen Monologe zu zelebrieren." Liegt ein besonders kräfteraubendes Scharmützel in der Luft, decken
wir uns mit genügend Ess- und Tranksame ein. Wir füllen im Saal unser Glas und
vergessen nicht, auch dem Gericht einen Schluck anzubieten. Dieses ist
seltsamerweise nie durstig. Während wir mit den Stimmorganen, wozu wir auch
die Zunge zählen, die notwendigen Laute erzeugen, schieben wir mit ihr
gleichzeitig eine Banane oder sonst etwas Leichtverdauliches zwischen die
Zähne, zerquetschen das Futter, schlucken es und können so locker jeder
Verschärfung des Getümmels begegnen. Unvergesslich sind uns die Erlebnisse mit unserer jüngeren Tochter,
welche, wenn gerade unsere Hausmanns- und Advokatenarbeit kollidierten, uns
öfters nicht nur ins Büro, sondern auch ans Gericht begleitete. In einer
Verhandlung, wir waren gerade am Plädieren und sie hatte schon unsere Hälfte
des durch die Schranke zweigeteilten Saales abgeklappert, an den Vorhängen
gezupft und sonst allerlei Schabernack getrieben, schlüpfte sie durch eine
Lücke auf die andere Seite und wurde unvermittelt der ihr vorher verdeckt
gebliebenen, auf ihren Sesseln thronenden Richter gewahr. Überrascht blieb
sie stehen, strahlte über das ganze Gesicht und begann, die Herren auf
Kauderwelsch zu beschwatzen. Weil in keiner Prozessordnung steht, was in
einem solchen Fall zu tun sei, blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit
steinernen Mienen abwechselnd auf sie und auf uns zu gucken. Kaum
vorzustellen, wie sie reagiert hätten, wäre unsere Tochter nicht zurück-,
sondern um ihre Hosenbeine gekrochen. Unser Antrag auf Unterbrechung der Gerichtsverhandlung zwecks Wechseln
der Windeln hat Justizgeschichte geschrieben. Unsere Strategie ist selbstverständlich streng kalkuliert. Mit unseren
Reden verdriessen wir das Gericht, heizen gemächlich seine Empörung und
Aggressionen gegen uns selbst an und fangen es so in einen natürlichen Reflex
ein. Niemals nämlich kann es sich alsbald noch gestatten, seine Wut an
unserer Klientschaft auszulassen. Die Verstrickung führt zum günstigen
Urteil. Um sich dies nicht eingestehen zu müssen und uns trotzdem eins
auszuwischen, hat die Fama der Richter verbreitet, neben den gesetzlichen
Strafmilderungsgründen existiere ein weiterer: durch uns verteidigt zu
werden. Was sie als Herabminderung, könnten wir als Kompliment auffassen. Da
wir indessen als unser eigener Souverän von keinem Urteil irgendeiner
irdischen Instanz mehr abhängig sind, ist uns Lob und Tadel einerlei
geworden. Während der gewöhnliche, dem Gericht in Gutkindart die Abschrift
seines Diktats überreichende Verteidiger gleich zu Beginn seines Ablesens
beantragt, sein Klient sei schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen,
fassen wir den Gerichtsschreiber scharf ins Auge und ermahnen ihn, er solle
notieren, die Verteidigung stelle ausdrücklich keine Anträge. Wir wollen
überrumpeln, die Zeremonie stören. Auch was wir zur Sache selbst zu sagen haben, war und ist unbeliebt.
Ein Buchstabe beispielsweise des helvetoplutokratischen Strafgesetzes zwingt
den Richter, die Strafe nach dem "Vorleben" des Täters zuzumessen.
Selbstverständlich handelt es sich um einen dieser toten Buchstaben. Würde er
belebt, würde, wie wir unverhohlen zum Ausdruck zu bringen pflegen, diese
feine Gesellschaft alsogleich zusammenkrachen, weil unübersehbar würde, dass
alle am Vorleben der zukünftigen Täter ihren gewichtigen Anteil haben, sodass
die ganze Bande vor dem Richter zu stehen und nicht ein Einzelner die Zeche für
die Geschehnisse und Versäumnisse allein zu zahlen hätte. Unsere Methode, der Justiz ihre Kunst des Verdrängens zu verleiden,
ist simpel und eindrücklich zugleich. Während der Staatsanwalt seine
flammende Anklagerede hält, notieren wir die Zeiten, welche er je für den
Tathergang und die Biographie des Täters aufwendet. Sind wir an der Reihe,
lassen wir uns, erster Affront, vom Gericht die Akten reichen, klauben daraus
das winzige Personaldossier unseres Klienten heraus und legen es demonstrativ
neben den Aktenberg zur Tat selbst. Ausserdem zupfen wir frühere Urteile
hervor und zählen dort die Zeilen und Seiten zur Person und zu den Taten
unserer Klientschaft ab. Die Resultate sind jedes Mal verheerend für die Justiz. Hat die Tat fünf
Minuten gedauert und ist der Täter zwanzig Jahre alt, reden die Ankläger, die
von Gesetzes wegen verpflichtet wären, den be- und entlastenden Umständen mit
gleicher Sorgfalt nachzuforschen, eine Minute zur Person und eine Stunde zur
Tat. Das wenige Millimeter dicke Personaldossier besteht aus lauter
Formularen, aus welchen hervorgeht, dass der Täter Eltern, allenfalls
Geschwistern hat und zur Schule gegangen ist. In den Urteilen nimmt das
Vorleben ein paar Zeilen, die Tat ganze Seiten ein. Die Vorbereitung unserer Verteidigung besteht zur Hauptsache darin,
das Leben unserer KlientInnen minutiös zu recherchieren und es im
Gerichtssaal breit zu walzen. Danach erklären sich ihre Taten von selbst als
logische Folge aller Erbärmlichkeiten und Frustrationen, welchen sie in ihrem
bisherigen Leben ausgesetzt gewesen sind. Die klassische Laufbahn beispielsweise der praktisch ausschliesslich
männlichen Eigentumsdelinquenten beginnt im Elternhaus. Der Vater ist
ungebildet und dazu verurteilt, als Fabrikarbeiter und dergleichen die am
schlechtesten bezahlten Tätigkeiten zu verrichten. Seinen Verdruss lässt er
im Suff und nach Verlust der Kontrolle an der Familie aus. Der Sohn kann in
der Schule mit gar keiner Unterstützung rechnen. Die Eltern, redeungewohnt, scheuen
das Gespräch mit dem verbildeten Lehrer. Die eigene Schulzeit liegt ihnen
selbst noch auf dem Magen. Didaktisches Geschick besitzen sie keines. Der
Sohn rutscht langsam zum Schwanz der Klasse ab. Um gleichwohl etwas zu
gelten, unterhält er die Mitschüler mit originellen und frechen Streichen.
Die wiederum passen überhaupt nicht in den Schulbetrieb. Statt, wie die
Klassenbesten, beständiges Lob, heimst er lauter Tadel ein. Und schon wird er
zum Sündenbock. Die ersten Peinlichkeiten - Verwarnungen, Repetition der
Klasse - zementieren die Verhältnisse. Die Jahre verstreichen. Die Kameraden
brechen auf. Der Sohn des mittleren oder höheren Kaders kurvt schon mit einem
Töffli in der Gegend herum. Eine solche Anschaffung liegt in seiner Familie
nun überhaupt nicht drin. Unseren Jüngling juckt's schon ganz schön in den
Fingern. Seine ordentlich trainierte Frechheit besorgt den Rest. Elegant
schwingt auch er sich ohne Ausweis auf das fremde Motörchen - leider ohne die
geringste Ahnung polizeilicher Effizienz. Er wird geschnappt und landet im
Erziehungsheim. Die Türen für eine „bürgerliche“ Laufbahn werden
schottendicht. Bald wird er mit uns zusammen vor die Schranken des Gerichts
treten und dort mit einiger Verwunderung mitverfolgen, wie wir nach der
Ausbreitung seiner Lebensgeschichte auch noch die Biographie des
Gerichtspräsidenten auseinandernehmen und zum letzten Satz ausholen:
"Wenn Sie, Herr Meier, in das Milieu unseres Klienten hineingeboren
worden wären und er in Ihres, sässen Sie jetzt auf der Anklagebank und er
dort oben auf Ihrem Podest". Wir brauchen wohl kaum noch eigens erklären zu müssen, dass ein solch
konsequentes und allseitiges Umdrehen des Spiesses die Sache auf den Punkt
bringt. Die Gegensätze erscheinen als das, was sie sind: Unüberbrückbar. Alsbald
können wir es uns ersparen, unsere Zeit mit diplomatischen Floskeln zu
vertreiben. An den Hunderten uns bekannter Schicksale nachmaliger Straftäter und
deren sich wie ein Ei dem anderen gleichenden sozialen Verhältnisse zerplatzt
die von den Schreiberlingen der Plutokraten unablässig verkündete Doktrin,
die Täter seien alleinverantwortlich. Gegenteils ist die Eigentumsdelinquenz
- neben dem Drogenproblem Hauptharst der "Kriminalität" - die
unmittelbare Folge der herrschenden Eigentumsordnung. So wie die Plutokraten
ihre Diktatur als Volksherrschaft getarnt haben, müssen sie zur Vollendung
ihres Betruges lückenlos alles und eben auch, weil sie eine falsche
Eigentumsordnung hüten, die hauptsächlich von ihnen zu verantwortende
Delinquenz in jenen Zusammenhang rücken, welcher für sie am günstigsten ist:
Die Schuld wird den anderen in die Schuhe geschoben und sie selbst waschen
ihre Hände in Unschuld. Am schärfsten weht der Wind in der Zwangspsychiatrie. Wir erinnern uns noch an eine unserer ersten Klientinnen, welche die
Beratungsstelle des Anwaltskollektivs, kaum war sie eröffnet, aufgesucht und
erklärt hat, sie habe eine Vorladung vom Stadtarzt bekommen. Wir anerboten
uns, sie zu begleiten. Zu zweit sprachen wir beim Besagten vor. Etwas erstaunt
wurde unsere Anwesenheit vermerkt. Wohl deswegen wurden wir überaus höflich
gebeten, Platz zu nehmen und in eine belanglose Diskussion verwickelt. Nach
ca. fünf Minuten öffnete sich die Tür und zwei schwergewichtige Männer mit
weissen Kitteln betraten den Raum. "So, Frau G.", erhob sich der
Arzt, "ich muss Sie jetzt leider in die psychiatrische Klinik
einweisen." Das wäre denn auch mit Sicherheit geschehen, wären wir nicht mit von
der Partie gewesen. Auch wir erhoben uns ruckartig und forderten den Arzt forsch
auf, sich mit uns ins Nachbarzimmer zu begeben. Er folgte uns. Wir schlossen
die Tür und setzten ihm auseinander, dass nicht die geringsten Gründe
vorlägen, welche gestatteten, die schwerste Sanktion überhaupt - den
Freiheitsentzug - gegen den Willen unserer Klientin anzuordnen. Sie hatte
keiner Fliege etwas zuleide getan. Als Grund hätte einzig die Tatsache
herhalten müssen, dass sie ihren Nachbarn und den von diesen herbeigerufenen
Polizisten erklärt hatte, in ihrer in der Stadt gelegenen Einzimmerwohnung
blitze und funkle es in der Nacht(wobei durchaus nicht auszuschliessen war,
dass irgendeine spiegelnde Fläche die Lichter des nächtlichen Autoverkehrs
für Sekundenbruchteile durch ihr Fenster warf). Wir glauben, nicht so sehr was, sondern wie wir es gesagt haben, hat
den Arzt bewogen, sein Vorhaben abzubrechen. Selbzweit schritten unsere
Klientin und wir aus seinem grossen, fahlen Gebäude hinaus. Daneben, dass wir uns als Feld-, Wald- und Wiesenanwalt betätigten -
wir haben unsere Nase sogar in einen Patentprozess gesteckt - haben wir das
erste Jahrzehnt den Schwerpunkt unserer Tätigkeit auf die Strafverteidigung
verlegt, uns jedoch gleich nach unseren ersten Begegnungen mit den Praktiken
der Zwangspsychiatrie vorgenommen, zu gegebener Zeit auch in dieses
Wespennest zu stechen. In der helvetischen Plutokratie kümmerte sich kein Knochen um die
Verteidigung der psychiatrisch Versenkten. Die Fälle bringen weder Honorar
noch Erfolg, sondern enormen Aufwand, alles Gründe, welche beim ordinären
Anwalt keine Begeisterungsstürme wecken. Viel lieber lässt er sich von einem
Plutokraten als Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft ködern. Er frisst
sein Brot und singt sein Lied. Unsere Staatspolitik und die Bedürfnisse der Zwangspsychiatrisierten
hingegen decken sich vollkommen. Sie wollen raus aus dem Irrenhaus und wir
wollen, dass sie rauskommen. Der Weg war steinig. Abgewiesen, abgewiesen, abgewiesen lauteten die
Verdikte der Anstaltswächter. Wir mussten uns die skandalösen Geschichten der
Opfer anhören, uns durch die Aktenberge graben, nach den anderen Informanten
Ausschau halten und obendrein noch unser Honorar organisieren. Unsere
Klientel zählte zu den Mauseärmsten. Unsere Gesuche, zum Armenanwalt bestellt
zu werden, wurden praktisch ausnahmslos abgeschmettert. Das
Entlassungsbegehren sei aussichtslos, wurde uns arrogant entgegengehalten. Wir hingegen dachten bei uns: "Wartet nur, Ihr Bürschchen, Euch
kommen wir schon noch bei!" Wir haben uns mit Jägergeduld gewappnet und
begannen nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten zu rechnen. Als etwas vom Eindrücklichsten haben wir die Mauer nicht der Anstalt,
sondern diese andere des Schweigens und der Abwehr empfunden. Regelmässig
wurde jede Diskussion von den Anstaltsärzten strikt verweigert. Sie verschanzten
sich hinter dem Arztgeheimnis und waren auch nicht mit den Erklärungen
unserer Klientschaft, sie seien uns gegenüber davon entbunden, zum Reden zu
bringen. Wer so viel schweigen muss, der hat viel zu verstecken. Also machten wir
uns auf die Socken. Zusammengezählt sind wir wochenlang in den trostlosen
Gängen der Anstalten umhergestrichen. Mit wachen Ohren und offenen Augen
haben wir die Geschehnisse registriert und bestätigt gefunden, was uns
Hunderte von KlientInnen hintertragen haben: Hier treibt unheimlich geschickt
getarnt etwas sein Wesen, das den Namen Inquisition und seit dem Faschismus
und den Nazimethoden auch diese Namen trägt. Nur die Scheiterhaufen und Öfen
fehlen. Die Inquisition hat Kerker und rohe Folter mit der Verteidigung des
wahren Glaubens und Hitler seine Lager und verfeinerte Folter mit Hygiene und
Eugenik plausibel gemacht. Das Einsperren in geschlossene psychiatrische
Anstalten und die Folter mit heimtückischen Nervengiften werden heute - man
höre! - als "Fürsorge" vermarktet. Die Zeit wurde reif Vor zehn Jahren begannen wir in grossem Stil, Zwangspsychiatrisierte
zu verteidigen. Exemplarisch wollen wir hier den Fall von Karl darstellen. Karl der Kleine Während des zweiten Weltkrieges wandte sich die in der helvetischen
Finanzmetropole lebende Mutter von Karl in einem längeren, etwas
umständlichen, handschriftlichen Brief an ihre Heimatstadt, beklagte sich
darin, dass ihr Mann sie dauernd beleidige und bat höflich um Hilfe. Der
Stadtrat stellte den Brief kurzerhand mit der durch nichts, aber auch gar
nichts gerechtfertigten Bemerkung, er lasse auf eine offensichtliche
Geistesgestörtheit der Verfasserin schliessen, der Vormundschaftsbehörde der
genannten Metropole zu. Von dieser Behörde muss man wissen, dass sie Hand in Hand mit der
Zwangspsychiatrie arbeitet. Sie ist auch - neben jedem beliebigen Arzt - für
die Zwangseinweisungen in die Anstalten zuständig. Sie setzte sofort einen Beamten des sogenannten Erkundigungsdienstes
in Trab, welcher die Verhältnisse von Karls Familie ausspionierte und darüber
einen Bericht verfasste. Durch Unterstreichung hervorgehoben wurde darin, der
Vater sei Ende des ersten Weltkrieges mehrere Jahre in einer psychiatrischen
Anstalt interniert gewesen. Karl selber, der die Primarschule besuche, sei in
seiner geistigen Entwicklung etwas zurückgeblieben. Das Dossier war eröffnet: Der Vater ein psychiatrisch Internierter,
die Mutter offensichtlich geistesgestört, der Sohn geistig etwas
zurückgeblieben und das in einem massgeblich an der Entwicklung jener
eugenischen Theorien beteiligt gewesenen Land, die beim nördlichen Nachbar
zur Massenliquidierung von Menschen mit sogenannten geistigen Defekten
geführt haben und welches sich nie öffentlich von seiner Beteiligung
distanziert hat. Es kam, was kommen musste. Nach allerlei Unfug - Fahren mit dem Velo
ohne Licht, Pissen aus dem Fenster und dergleichen mehr - kassierte Karl
wegen Diebstahls eines Velorades und einer –pumpe als Ersttäter einen Monat
Gefängnis unbedingt (sic!) und wegen anderer geringfügiger Delikte weitere
Freiheitsstrafen. Im Handumdrehen war er auch entmündigt, das Dossier war ja,
wie wir wissen, bei den Zuständigen schon eröffnet. Im Knast führte der Vormund mit seinem nunmehr 27 Jahre alten Mündel
ein Gespräch, welches, wie er der Vormundschaftsbehörde schriftlich
berichtete, unmöglich verlaufen sei. Karl habe nur immer verlangt, er wolle
nach der Entlassung als selbständiger Schriftenmaler arbeiten. Er hingegen
habe ihm klargemacht, "dass dies nicht gehe, sondern dass er jetzt
lernen müsse, einer geregelten Arbeit nachzugehen und sich den Anordnungen
anderer zu fügen". Präziser hätte er die im "freiheitlich, demokratischen
Rechtsstaat" herrschende Realität gar nicht in Worte fassen können! Unserem Karl half es nicht im geringsten, dass die Ansinnen des
Vormundes eindeutig verfassungswidrig waren, hatten sich doch die Plutokraten
in der schweizerischen Bundesverfassung die Handels- und Gewerbefreiheit
eigens garantieren lassen und verlangte eine weitere Bestimmung, dass alle
Menschen gleich zu behandeln sind. Es half ihm auch nicht, dass er sich bis
anhin tatsächlich als Schriftenmaler und mit periodischer Unterstützung
seines Vaters, jedenfalls aber ohne die geringsten öffentlichen Fürsorgebeiträge,
recht und schlecht durchs Leben geschlagen hatte. Als Karl wieder auf freiem Fuss war, schickte der Vormund ihn auf das
Arbeitsamt, erkundigte sich in der Folge, ob er sich "seiner Anordnung
gefügt" hatte und erfuhr, dass statt seines Mündels dessen Vater dort
vorgesprochen habe. Er schickte sofort zwei Polizisten los, welche Karl suchten und auch
fanden. Er war ausgerechnet dabei, ein Molkereigeschäft zu beschriften! Die
beiden Polizisten zerrten ihn von seiner Arbeit weg und verfrachteten ihn,
wie vom Vormund befohlen, in eine 80 km entfernt liegende
Arbeitserziehungsanstalt. Karl war mit dieser Massnahme - zu Recht! - nicht einverstanden und
verweigerte - ebenfalls zu Recht! - nach besten Kräften die
"Erziehung". Der Anstaltsdirektor meldete dem Vormund das Scheitern
seiner Bemühungen. Der machte kurzen Prozess: Er brachte Karl
höchstpersönlich in die gleiche psychiatrische Anstalt, in welche schon sein
Vater versenkt worden war. Die Geschichte spielte sich zur Zeit des "Kalten Krieges"
ab, als die offizielle Schweiz mit dem ganzen Westen gegen die Sowjetunion
bellte und dort die Internierung von Menschen ohne Gerichtsurteil an den
Pranger stellte. Darüber, dass sie im eigenen Lande systematisch Abertausende und auch
unseren Karl ohne Gerichtsentscheid eingelocht hat, hat sie kein
Sterbenswörtchen verloren. Dreiundzwanzig geschlagene Jahre kam Karl nicht mehr aus dem Irrenhaus
heraus. Täglich ist er mittels zwangsweiser Verabreichung schwerstwirkender
chemischer Substanzen massiv gefoltert worden. Wie später gutachterlich
festgestellt worden ist, sind dabei sein Körper und seine Nerven irreversibel
geschädigt worden. Praktisch täglich hat Karl - vergeblich - seine Entlassung verlangt. Sieben Jahre nach der Ratifizierung der Europ.
Menschenrechtskonvention bequemte sich die Schweiz, den psychiatrisch
Verfolgten die Anrufung eines Gerichtes zu ermöglichen. Als wir die
Verteidigung von Karl übernommen haben, hatte er dies von sich aus schon
getan. Wir besuchten unseren Klienten häufig in der Anstalt und sammelten bei
den verschiedenen Instanzen die mehrere tausend Seiten starken Akten
zusammen. Das Gericht setzte uns just, als uns die Anwaltswächter wieder
einmal verboten hatten, unseren Beruf auszuüben, Frist an, das
Entlassungsgesuch unseres Klienten zu begründen. Da sind ja wohl die beiden Richtigen zusammengeraten! Unser einmonatiges Verbot hatten wir kassiert, weil wir mit unserem
Velo wie üblich durch eine Einbahnstrasse gefahren waren. Zufälligerweise
standen dort gerade zwei Hüter Helvetiens. Unser Angebot, die Angelegenheit
im vorgesehenen Schnellverfahren an Ort und Stelle zu erledigen, wurde
abgelehnt. Obwohl wir sogar noch den Schlüssel vorweisen konnten,
konstruierten die beiden, das Velo könne ja gestohlen sein, eine Überprüfung
auf der Polizeiwache dränge sich auf. Das Ritual dort beginnt wie gewöhnlich: "Ich werfe Ihnen vor,
dass Sie in verkehrter Richtung durch eine Einbahnstrasse gefahren sind. Was
sagen Sie dazu?" "Wir machen von unserem Recht Gebrauch, die
Antwort zu verweigern." "Dieses Recht gibt es im vorliegenden
Übertretungsverfahren nicht". "Wir beharren auf unserem
Recht". So geht das eine Weile hin und her. Der Postenchef mischt sich
ein und rät dem federführenden Kollegen, er solle in seinem Rapport notieren,
was er gesehen habe und welches unsere Antwort auf seinen Vorhalt gewesen
sei. "Das ist korrekt", werfen wir ein. Der Ordnungswächter kocht
und zeigt auf die Bank im Wachlokal: "Setzen Sie sich dorthin".
"Es gibt keine Vorschrift, wonach wir uns zu setzen haben, wir ziehen es
vor, stehen zu bleiben". Das Mass ist voll. Wir werden brutal gepackt
und in eine Polizeizelle bugsiert. Es hätte uns nichts Besseres passieren können. In jenen wenigen
Augenblicken haben wir ein Phänomen nachvollziehen können, von welchem uns
unsere KlientInnen x-mal berichtet, das wir aber nie richtig verstanden
hatten: Den Verhaftschock. Ein paar Sekunden waren wir nahe daran, den Verstand zu verlieren. Wir wissen nicht, warum wir ihn nicht verloren haben. Wahrscheinlich
war unsere Souveränität bereits so weit entwickelt, dass wir unantastbar
geworden waren. Wir haben uns jedenfalls gefasst und begonnen, die Zelle zu
inspizieren. Sie war weissgetüncht, hatte ein geschlossenes Oberfenster,
wurde von künstlichem Licht erhellt und war absolut kahl: kein Tisch, kein
Stuhl, kein Bild, kein Schmuck, nichts, nichts, nichts. An den Wänden
hingegen stellten wir überall Abriebe von Gummisohlen fest, Spuren tobender Menschen. Es ist uns damals praktisch auf einen Schlag die ganze Perfidie
aufgegangen, mit welcher die Mächtigen die Welt beherrschen. Wir verbanden
das Erlebnis mit unseren Erfahrungen, welche wir in den Erziehungsanstalten,
in den Kasernen der Schweizerarmee, in den psychiatrischen Anstalten und
überall dort, wo gezwungen und befohlen wird, gesammelt hatten. Da werden
nicht irgendwelche zufällige Konzepte, sondern seit Menschengedenken erprobte
und ständig weiterentwickelte Mechanismen der Unterdrückung von Herrschaft zu
Herrschaft weitergereicht und systematisch umgesetzt. Die Arrestzelle ist nur ein winziger Teil des riesigen Arsenals. Selbstverständlich durchschauen die wenigsten Ausführungsgehilfen die
subtilen Methoden. Der Richter, welcher eine Verhaftung anordnet, ist beim
Vollzug nicht dabei. Der Polizist, der zur Tat schreitet, sieht zwar die
Reaktionen, denkt aber nur, das sei nun halt einmal so. Würde er den Befehl
zur Verhaftung verweigern, wäre er seinen Job und auch das kleine Machtgefühl
los, welches ihm sein Amt verleiht. Werden die Praktiken nach längerer Zeit gleichwohl durchschaut, werden
rasch ein paar ausgeklügelte Reformen verkündet, welche, wie zum Beispiel das
Umfunktionieren der Monarchien zu Demokratien, die Herrschaft nur noch
perfektionieren. Nach einer guten halben Stunde öffnete sich die Tür und die beiden
Ministranten der helvetischen Plutokratie fuhren uns in ihrem Wagen zu
unserem Velo zurück. "Das wird noch auf Euch zurückfallen",
verkündeten wir. Anderntags erstatteten wir bei der Staatsanwaltschaft
Anzeige wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch. Nach ca. drei Monaten
wurde sie den Beiden von einem Kollegen vorgehalten. Sie reagierten mit einer
Gegenanzeige: Wir – unbewaffnet - hätten sie – mit je einem Revolver in den
Halftern - durch schwere Drohung in Angst und Schrecken versetzt. Das Strafverfahren gegen die beiden Polizisten wurde ohne weitere
Untersuchungen eingestellt, wir hingegen angeklagt, schuldig gesprochen und,
obwohl wir dem Gericht anheimgestellt hatten, uns ohne Pardon zur
Höchststrafe zu verurteilen, lediglich zu bedingtem Gefängnis verknurrt. Wir
mussten uns selbst den gleichen Kommentar verpassen, wie ihn unsere
KlientInnen zu hören bekommen: Das Urteil ist nicht einmal den Fetzen Papier
wert. Seltsamerweise ist unsere an das schweizerische Bundesgericht verfasste
Beschwerde gegen diesen Fetzen nie behandelt und das Urteil deswegen auch nie
ins Vorstrafenregister eingetragen worden. Das stellte sich heraus, als wir
ein weiteres Mal vor den Kadi zitiert wurden. Unter den Personalien der
Anklageschrift wurden wir als "ohne Vorstrafen" aufgeführt. (Die
neuerliche Anklage endete zur Abwechslung mit einem Freispruch, obwohl uns
eine Verurteilung wiederum schnurzegal gewesen wäre.) Bei enormem Aufwand hat
die Strafjustiz nicht den geringsten Effekt erzielt, wir hingegen haben
ausgiebig unbezahlbare Erfahrungen gesammelt. Auch das besagte Berufsverbot, mit welchem uns die Anwaltswächter nach
der strafrechtlichen "Verurteilung" doppelt zu treffen trachteten,
blieb ohne jede Wirkung. Das Verbot betraf unser Auftreten in Zivil- und
Strafprozessen, das Gericht jedoch, welches in der Sache von Karl zu
entscheiden hatte, sah sich, um nicht die strengeren Vorschriften jener
Verfahren beobachten zu müssen, als ein solches der Verwaltung, für welches
das Anwaltsmonopol nicht galt. Jeder Laie und ergo auch ein Anwalt mit
Berufsverbot konnte Vertreter sein. Wir zogen uns fast einen Monat in ein
Haus in den Bergen zurück, ackerten uns durch die Akten, verfassten eine
umfangreiche, fulminante Kritik
gegen die Versenkung unseres Klienten und reichten sie knapp vor Ablauf
unseres Berufsverbots beim Gericht ein. Wie bei einer generellen Erfolgsquote von weniger als 5% nicht anders
zu erwarten war, schmetterte dieses die Entlassungsklage hochkantig ab. Wir
liessen uns nicht beirren und erhoben Berufung beim Bundesgericht. Weil wir
jedoch wussten, dass die Chancen unseres Klienten dort noch geringer waren,
besuchten wir ihn nacheinander mit sechs von uns organisierten Journalisten
in der Anstalt. Als sich der Chefredaktor einer namhaften Zeitschrift
schriftlich mit ein paar unangenehmen Fragen an den Anstaltsdirektor wandte,
war Karl innert Wochenfrist frei. Seit nun bald zehn Jahren lebt er wieder in
der Finanzmetropole und zieht zur Freude der einen, zum Ärger der andern,
seine Kreise. Und wie ist sein Berufungsverfahren ausgegangen? Das höchste Gericht
hat ihn - obwohl er bereits entlassen war! - ebenfalls nicht entlassen
wollen. Stur hat es auch ein gegen seinen falschen Entscheid gestelltes
Revisionsbegehren abgewiesen. Der Kasus Karolus war nur einer der höchst zahlreichen Fälle, mit
welchen wir die sich selbstherrlich gebärdenden Bundesrichter direkt Lügen
gestraft haben... PSYCHEX Als einziger in der Hochburg der Plutokraten auf die Verteidigung von
Zwangspsychiatrisierten spezialisierter Anwalt wurden wir zur Anlaufstelle der
Opfer. Dem Massenansturm waren wir unmöglich gewachsen. Etwas musste
geschehen! Wir gründeten den Verein PSYCHEX und scharten dort diejenigen
zusammen, welche gewillt waren, Zwangspsychiatrisierte zu verteidigen. Das
Echo auf die Appelle des Vereins war enorm. Die Eingesperrten standen
plötzlich nicht mehr allein auf weiter Flur da. Der Verein hat eine Bresche
in die Anstaltsmauern und damit ins Machtsystem geschlagen. Auf der Justizebene erzwangen wir eine Verfahrensänderung. Das
dreiköpfige Gerichtsgremium, welches erstinstanzlich die Entlassungsbegehren
beurteilte, wurde von zwei Psychiatern dominiert. Jeweils einer dieser Herren
besuchte den "Gesuchsteller" in der Anstalt, verfasste darüber
einen schriftlichen Bericht, liess ihn bei den beiden anderen zirkulieren und
in seinem Sinne abhaken. In den ersten acht Jahren der Existenz des Gerichtes
wurden so pro Jahr von den 250 bis 300 Entlassungsklagen im Durchschnitt
läppische 10 gutgeheissen. Wir verlangten, dass alle drei anzutraben hätten, um den Internierten
persönlich anzuhören. Das Bundesgericht verwarf diesen Standpunkt ein erstes
Mal, akzeptierte ihn jedoch, als wir ihn in einer anderen Sache hartnäckig
wiederholten. Als wir beim nächsten Fall zum Gerichtstermin der unteren
Instanz in der Anstalt aufkreuzten, erschien wiederum nur der ärztliche
Referent. Wir erklärten ihm, er könne gleich wieder nach Hause gehen, weil
das Gericht ungehörig besetzt sei. Doch dieses hielt an seiner alten Praxis
fest. Wir mussten nicht weniger als viermal ans Bundesgericht rennen, bis die
gnädigen Herren, welche die Metropole der Plutokraten verwalten, sich zur
Änderung der Gerichtsordnung entschliessen konnten. Im ersten Halbjahr danach
wurden über 40, im darauffolgenden Jahr genau 110 Zwangspsychiatrisierte via
das Gericht entlassen. Wir bilden uns nichts darauf ein, denn wir sehen die Zeichen genau und
wissen, dass die Plutokraten ihr Terrain nimmer preisgeben werden und bereits
nach neuen Formen sinnen, um auch das kleine Loch, das entstanden ist, wieder
zu stopfen. Zur Zeit läuft gerade eine "Aufklärungskampagne" der
Anstalten auf vollen Touren, die von den Anwaltswächtern gegen uns
angestrengten Berufsverbotsverfahren häufen sich wieder und die vordem öffentlich
zugänglich gewesene Zahl der gerichtlichen Entlassungen wird streng unter
Verschluss gehalten. Die Beispiele liessen sich beliebig vermehren. Die 53 schweizerischen psychiatrischen Anstalten mit den rund 13000
ständig gefüllten Betten verfügen bei Tagesansätzen von mehr als 350 Franken
pro Bett über ein jährliches Budget von weit über einer Milliarde Franken.
Die Budgets der chemischen Fabriken, welche ihre Gifte für die
Zwangsbehandlungen beisteuern, sind ebenfalls nicht von Pappe. Alle, die an
diesem Kuchen schlecken, werden im Chor die Vorwürfe unserer
zwangspsychiatrisierten KlientInnen, sie würden ihrer Freiheit beraubt und
gefoltert, strikt zurückweisen und behaupten, sie hätten nur deren Fürsorge
und Wohl im Auge. Ihr grosses Geschrei wird jede Kritik ersticken. Während
wir hier aus der Wüste rufen, schiesst die riesige Propagandaflut der
Plutokraten durch ihre Medien. Es ist schon geschehen und es wird sicher
nicht an weiteren Versuchen fehlen, unsere Beschreibung der Wirklichkeit und die
von uns gezogenen Schlüsse als falsch, stümperhaft, verschroben,
realitätsfremd oder naiv zu deklassieren. Was ficht's uns an. Wir wissen, was wir mit eigenen Augen gesehen, mit
unseren Ohren gehört und mit unserer Nase gerochen haben. Revolution oder individueller Widerstand? Stellt man sich den Zustand der Welt als ein riesiges, noch ungelegtes
Mosaikbild vor, haben wir ein halbes Jahrhundert lang Zeit und Gelegenheit
gehabt, die passenden Steinchen – Stück für Stück – zu suchen und zu setzen.
Langsam ist das Werk gewachsen. Mit jedem Stein wird das Bild schärfer und es
wird einfacher, die richtige Stelle für jeden noch nicht gesetzten Stein zu
finden. Natürlich sind wir weder an den Tafeln derjenigen gesessen, welche den
Billionen zusteuern, noch haben wir an den Verhandlungen im Kreml oder
Pentagon teilgenommen. Das brauchen wir auch gar nicht. Die Resultate der
Entscheide, die dort gefällt werden, sind – jeweils zeitverschoben -
unübersehbar. Aus der Weltgeschichte wissen wir, zu welchen Monstern sich die
Menschen steigern können. Die Gegenwart ist voll von ihren Spuren. Von den beiden Möglichkeiten, ein diktatorisches System radikal zu
stürzen oder dem Diktat von Fall zu Fall Paroli zu bieten, haben wir uns für
letztere entschieden. Revolutionen bringen nichts. Auch wenn sich die
Pyramide von Zeit zu Zeit mit Getöse zu wälzen pflegt - eine Spitze bleibt
immer oben. Aus diesem Grund haben wir bloss unsere eigene Souveränität
ausgerufen. In einer Welt, die seit Urzeiten durch und durch diktatorisch
funktioniert, erwarten wir nicht, dass solche Freistaaten nun wie Pilze aus
dem Boden spriessen. "Tritt mir aus der Sonne!" Jäger und Sammler sind täglich höchstens zwei bis drei Stunden auf
Nahrungssuche. Seit die Plutokraten die Erdkruste mit Asphalt und Beton
überziehen lassen, steht die Menschheit fünf Tage lang acht Stunden in ihren
Diensten und spurtet die übrige Zeit die Köder ab, welche sie auslegen
lassen. Wir versuchen uns irgendwie durchzuschlagen. Unsere Familie besteht
aus vier Köpfen und wir sind gezwungen, dem plutokratischen System gerade so
viel abzuzwacken, wie wir in der von ihm usurpierten Welt zur Deckung unserer
Grundbedürfnisse brauchen. Wohnung Unser Dach über dem Kopf entspricht dem Traum jenes kleinen, die
grossen kopierenden Spekulanten, der vor über dreissig Jahren einem Bauern in
einem Vorort der Metropole eine Wiese von 50 auf 100 Meter abgekauft, darauf
sechzehn Renditenhäuschen errichtet und eines davon unserer später ebenfalls
in die Metropole gezogenen Mutter verschachert hat. Sie musste den Kaufpreis
als Kredit bei den Plutokraten aufnehmen. Auf allen vier Grenzen steht ein
Zaun, gebaut von unseren vier gutbürgerlichen Nachbarn. Als uns unsere Mutter
das Objekt verkaufen wollte, lehnten wir ab. Unsere beiden Töchter sind die
Besitzerinnen und auch die Kreditschuldnerinnen geworden. Nach helvetischem
Sachenrecht können nicht wir ihnen, sondern sie uns die Türe weisen. Diese
Macht wollten wir ihnen in die Hände spielen, um den Vorsprung, der sich aus
unserem Alter und unserer Erfahrung ergibt, halbwegs wettzumachen. Weiterer, wichtiger Vorteil: Wir sind nicht erpressbar. Unsere
persönlichen Verfolger laufen vollkommen auf, wenn sie uns finanziell an den
Kragen wollen. Die Bankkreditzinsen bezahlen wir den Plutokraten. Mit jeder Rate
wächst unsere Wut. Permanent sinnen wir nach Mitteln und Wegen, uns dieser
Tribute zu entledigen. Die Situation ist geradezu grotesk. In der Schweiz sind die überwältigende
Mehrheit der Bewohner Hypothekar- und Mietzinsschuldner. Die Gläubiger machen
eine verschwindend kleine Minderheit aus. Nichts wäre für die Mehrheit
einfacher, als in einem Gesetz beispielsweise auf einen Schlag die
Abschaffung sämtlicher Zinspflichten für das Wohnen anzuordnen oder aber im
Sinne eines allmählichen Übergangs zu bestimmen, die Hypothekarzinse seien
automatisch Amortisationszahlungen der Hypothekarschuld und die Mietzinse
Anzahlungen auf den Kauf der Mietwohnung bei zwingender grundbuchamtlicher
Überschreibung vom Eigentümer auf den Kreditschuldner bzw. Mieter nach einer
Zeitspanne von beispielsweise 15 Jahren. Dass solche absolut naheliegende Lösungen weder diskutiert, geschweige
denn umgesetzt werden, belegt das Raffinement, mit welchem die Plutokraten
das Volk in die Zange genommen haben. Würde eine solche Diskussion einsetzen,
würden sie wie die Wölfe zu heulen beginnen, in ihre Schafspelze schlüpfen
und jedem Einzelnen pausenlos ins Ohr dröhnen, die ganze Wirtschaft krache
zusammen, alle verlören ihre Existenz und würden den Hungertod erleiden. Was selbstverständlich überhaupt nicht stimmt! Den Beweis liefert jede Zeit des Umbruchs. In Deutschland haben die
Bewohner der zerbombten Häuser keine Mietzinse mehr bezahlt. Während die
westdeutschen Plutokraten nach Ende des Krieges sofort die Schraube
anzuziehen begannen und aus den Mietern wieder Zinsen für die Wohnungen
pressten, wurde in Ostdeutschland das Wohnen praktisch frei. Die Ostdeutschen
sind nicht verhungert. Wer die Verhältnisse unbeeindruckt vom Störgeflüster
der Plutokraten betrachtet, stellt fest, dass Westdeutschland quantitativ
zwar zugelegt hat, die Lebensqualität jedoch enorme Rückschritte verzeichnet.
In Ostdeutschland war das quantitative Wachstum bescheiden. Dafür sind sie
den Westdeutschen punkto Lebensqualität weit überlegen. Wir haben beide
Länder bereist und können uns daher aus eigener Anschauung ein Urteil bilden.
Wir ziehen die aufgeweckten, interessierten und gastfreundlichen Ostdeutschen
den übersättigten, gehetzten und kaum mehr ansprechbaren Westdeutschen
entschieden vor. Bei den Ostdeutschen stöhnen nur jene, welchen die
Plutokraten schon den Speck durchs Maul gezogen haben. Wenn sie ihn gefressen
haben werden, werden wir uns wieder mit ihnen unterhalten. Bei den Südslawen, deren Leben wir schon seit über zwei Jahrzehnten
aus allernächster Nähe beobachten, herrscht zurzeit Krieg. Vor dem Ausbruch
strömten massenhaft Touristen an die adriatische Küste und pumpten jährlich
Milliarden von Devisen ins Land. Neben all diesen machtpolitischen Ränkespielen sind sicher auch
diese Milliarden für den Krieg verantwortlich gewesen. Den kroatischen
Plutokraten hat ganz einfach nicht mehr gepasst, dass die serbischen
Plutokraten einen erklecklichen Teil davon in ihre Börsen gelenkt haben.
Warum denn auch mit denen teilen? Also haben sie - dem Vorbild ihrer
westlichen Genossen folgend und in Absprache mit ihnen - in Kroatien die
"Demokratie" und Unabhängigkeit ausgerufen und die Grenzen zu
Serbien geschlossen. Ganz klar, dass die dortigen direktbetroffenen Böcke
sich das nicht haben bieten lassen. Wer von den westlichen Plutokraten - Hand
aufs Herz! - würde solches denn schon dulden? Auch sie würden augenblicklich
mit Krieg reagieren, würden ihre Pfründe blockiert. Mit der richtigen
Hetzpropaganda lässt sich jede Armee mobilisieren. So ist auch die serbische
in Marsch gesetzt worden. Ein paar vor allem auf die touristischen Hochburgen
in Kroatien gezielte Granaten haben die ausländischen Gäste so erschreckt, dass
ihr Strom jäh versiegte. Unsere ununterbrochenen Inspektionen an Ort und Stelle haben ergeben,
dass es den Bewohnern der Adriaküste, was die Lebensqualität anbelangt, trotz
der schlagartig ausgefallenen Tourismusmilliarden um keinen Deut schlechter geht.
Im Gegenteil. Früher waren sie während der vier Monate dauernden Saison
praktisch nicht mehr zu erkennen. Wie die gehetzten Affen sind sie in der
Gegend herumgerast und haben immense Arbeit geleistet: die Touristen gemolken
und erst noch ihre Felder bestellt oder im Meer gefischt. Heute haben sie
plötzlich Zeit in Hülle und Fülle. Die ganze mühsame Melkerei ist
weggefallen. Vom Geld, welches sie mit ihrer Plackerei erzielt haben, ist der
grösste Brocken ohnehin in die Kassen der kroatischen und serbischen
Plutokraten geflossen. Den bei ihnen hängen gebliebenen Rest haben ihnen
diese über den Verkauf von Autos, Televisionsapparaten, Stereoanlagen und
dergleichen mehr alsogleich wieder abgeknöpft. Damit haben sie ihnen nur noch
zusätzliche Arbeit aufgehalst; denn nun mussten alle diese Geräte
unterhalten, repariert und von Zeit zu Zeit ersetzt werden. So wie die Adriabewohner das Versiegen der Tourismusmilliarden
spielend verkraftet haben, würden auch die Schweizer den Ausfall der
Zinsmilliarden für das Wohnen leicht überhauen. Sie würden sich wieder auf
die wesentlichen, leicht zu deckenden Bedürfnisse besinnen und, von weniger
Geld angetrieben, Beschäftigung und Musse, die nichts kostet, in Hülle und
Fülle finden. Aber es will einfach nicht sein. Wir werden unser kleines Zinsproblem,
wenn die Zeit gekommen sein wird, wie üblich individuell und mit den Mitteln
unseres eigenen Freistaates lösen müssen. Nahrung Wir ernähren uns von den scheusslichen Lebensmitteln, wie sie die
Plutokraten in ihren Kaufhäusern anbieten. Kleidung Unsere Kleidung ist schon zur Sprache gekommen. Die Textilindustrie
macht magere Geschäfte mit uns. Tonnenweise werden alte Klamotten entsorgt.
Wir bedienen uns. Transport Die zwanzig Kilometer zu unserem Büro in der Metropole hin und zu
unserem Dach zurück trägt uns sommers und winters und bei jeder Witterung
unser Velo. Wir finden, wenn ein Pferd keinen Regenschirm braucht, brauchen
auch wir keinen. Unsere besten Ideen fallen uns auf dem Fahrrad ein. Im Büro,
in den Justizpalästen und den Anstalten brauchen wir sie nur noch umzusetzen.
Es hat sich in der helvetischen Plutokratie eingebürgert, dass die
Menschen sich vorzugsweise mit dem Auto fortbewegen. Ein Durchschnittsverdiener
muss einen ganzen Tag pro Woche arbeiten, um sich ein solches Vehikel leisten
zu können. Wer darauf verzichtet, darf ohne schlechtes Gewissen pro Jahr 2,4
Monate auf der faulen Haut liegen. Der Ärger der Automobilfabrikanten soll
ihn nicht weiter stören. Heizung Die Wärme unseres Hauses, welches wir eigenhändig isoliert haben,
erzeugen wir mit Holz, das wir im Wald sammeln und mit dem Veloanhänger
heimkarren. Die grosse Holzbeige, Vorrat für drei Jahre, passt ganz und gar
nicht ins Quartier. Der Spekulant, der unserer Mutter das Haus verkauft hat, hatte einen
Ölbrenner installieren lassen. Wir haben ihn herausgerissen. Als der
Heizkessel zu rinnen begann, hätten wir nicht gewusst, woher das Geld für
einen neuen nehmen. Genau in jener Zeit boxten wir jedoch einen Mann aus der
Anstalt, welcher ausnahmsweise Geld hatte. Der Rechnungsbetrag für die neue
Holzheizung und unser Honorar waren praktisch gleich gross. Solche Koinzidenzen gehören bei uns zur Tagesordnung. Vergnügen Unsere Ausgaben für die Vergnügungsindustrie liegen bei null. Unser
Leben ist aufregender als jeder Kriminalroman. Zeitungen abonnieren wir
keine, der Fernseher ist in der Mülltonne gelandet. Gesundheit Seit einem Vierteljahrhundert seuchen wir alle unsere Beschwerden und
Krankheiten durch, ohne die Dienste eines Arztes oder Apothekers in Anspruch
zu nehmen. Unsere Krankenversicherung haben wir gekündigt. Reparaturen Da wir wenig anschaffen, gibt es wenig zu reparieren. Alle Reparaturen,
die wir irgendwie selber ausführen können, machen wir auch selber. Ausgaben Summa summarum entsprechen
unsere Ausgaben weniger als der Summe, welche in der helvetischen Plutokratie
als das betreibungsrechtliche Existenzminimum bezeichnet wird. Arbeit Unser Büro ist, wie unser Staat, ein Einmannbetrieb. Das Mobiliar
stammt aus dem Brockenhaus oder ist zusammengebettelt. Unsere Arbeit wird vom Grundsatz "weniger ist mehr" und vom
Erledigungsprinzip beherrscht: Wir nehmen nicht, wie die meisten Anwälte,
Klienten an, bis wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht, so dass alle
zu kurz kommen, sondern dosieren sorgfältig. Diejenigen, welche unsere Künste
in Anspruch nehmen, verlassen mit dem, was sie wünschen, unser Büro. Wir
komponieren den Brief, die Klage, Beschwerde oder was auch immer zusammen mit
ihnen. Geht es in eine Verhandlung, ergeben sich die Argumente aus den
Gesprächen und der gemeinsamen Lektüre der Akten. Was wichtig ist, bleibt in
unserem Kopfe hängen und wird auch vorgetragen. Was uns nicht in den Sinn
kommt, ist offensichtlich auch unwichtig gewesen. Den Rest des Futters
liefern uns die Gegenparteien und Instanzen am Ort des Geschehens. Die bei
der Anwaltschaft grassierende Furcht, etwas zu vergessen, kennen wir nicht.
Die ehrlichste Begründung einer Klage, einer Antwort, einer Beschwerde oder
eines Urteils ist für uns das knappe "weil es Uns so gefällt". Was
darüber hinausgeht, ist Juristengeschwätz und der Sand, den sich alle
gegenseitig in die Augen schaufeln. Wir haben die Fähigkeit entwickelt, einen
Gerichtsentscheid genau an jener Stelle aufzuschlagen, wo nach vielen
Umschweifen die knallharte Behauptung steht, welche nicht weiter begründet
werden kann und die auch in keinem Gesetzestext eine Stütze findet. Diese
Texte sind angesichts der unendlichen Vielfalt des Lebens - es gibt keine
zwei Fälle, welche sich decken - ohnehin beliebig manipulierbar. Den Ausgabeposten "Bibliothek" kennen wir nicht. Wir wissen,
was wir wollen. Das brauchen wir bei keinem Kommentator nachzulesen. Als
feudalbesoldete Ministranten der Plutokraten tragen diese sowieso nur
Argumente gegen unsere Klientschaft zusammen. Post und Telefonate werden sofort erledigt, Fehlentscheide wenn immer
möglich noch gleichentags weitergezogen. Tendenziell setzen wir uns
allerdings vom "Rechtsweg" ab. Bereits haben wir den Europ.
Gerichtshof und das Bundesgericht definitiv abgebucht. Wir spüren, dass auch
die niedere Gerichtsbarkeit in Bälde das Vergnügen unserer Anwesenheit wird
missen müssen. Wir wollen uns doch nicht bis zu unserem seligen Ende auf die
justizialen Leimspuren kleben lassen! Unser Stil führt dazu, dass wir praktisch jeden Tag den Punkt
erreichen, wo uns die Arbeit ausgeht. Neben unseren täglichen Velofahrten ist
das die fruchtbarste Zeit. Was wir als ein solch "Arbeitsloser"
anreissen, wird die Plutokraten und ihre Adlaten besonders stören. Buchhaltung Wir kommandieren keine Knechte und besitzen kein Vermögen. Unser
administrativer Aufwand ist minimal. Wir müssen niemanden kontrollieren. Also
brauchen wir, um ein Beispiel zu nennen, keine doppelte Buchhaltung. Ein
einfaches "Milchbuch" reicht vollkommen, um gegen den Steuervogt
anzutreten. Rechnungen stellen wir, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen,
schon seit über einem Jahrzehnt keine mehr. Unsere Klientschaft besitzt kein
Geld und könnte sich deshalb gar keinen Anwalt leisten. Es ist für uns
selbstverständlich geworden, unser Honorar selbst zu organisieren. Es besteht
praktisch ausschliesslich aus den geringen oder wacker gekürzten
Entschädigungen, welche uns aus den gewonnen Prozessen und den nicht
abgewiesenen Armenrechtsgesuchen zugesprochen werden. Einnahmen Summa summarum entsprechen unsere
Einnahmen haargenau dem Betrag unserer Ausgaben. Wir haben nicht den
geringsten Grund, unzufrieden zu sein. Insel Seit 13 Jahren ziehen wir uns jedes Jahr für rund drei Monate auf eine
Insel im Mittelmeer zurück und leben in einem hundertjährigen, eigenhändig
instand gestellten Haus, welches in einem halbverlassenen Dorf steht. Wie die
Mücken ans Licht sind seine Bewohner in die Städte aller Erdteile gezogen
worden. Auf der Insel erholen wir uns von unserem bürdevollen Engagement,
schaffen Distanz, schöpfen die neuen Phantasien und Kräfte, um die Attacken
gegen unsere KlientInnen und uns parieren und unsere Gegenschläge führen zu
können. Ohne diese Rückzüge hätten wir uns schon längst verhauen und den
Wächtern der Plutokraten ausgeliefert. Sie sind obligatorischer Bestandteil
unserer Staatspolitik geworden. Wir können die Elektro-, Wasserinstallation und alle Haushaltgeräte
reparieren, weshalb wir bei unseren Nachbarn im Dorf gern gesehen sind, wenn
wir mit unserer Werkzeugkiste auftauchen. Sie tauschen unsere Dienste mit
ihren frischen Feldfrüchten. Von deren Verzehr leiten wir unsere Kompetenz
ab, die miese Qualität der Lebensmittel in den helvetokratischen Supermärkten
beurteilen zu können. Mit der Tauschwirtschaft kommen wir unserem Idealstaat am
allernächsten. Wir haben keine Einnahmen, aber auch keine Ausgaben. Wir
erfahren selbst, wie erstaunlich wenig der Mensch zum Leben eigentlich
braucht. Kaum klarer als hier auf der Insel können uns die dem Volk
abgeknöpften Tribute und der aberwitzige Aufwand ins Bewusstsein treten,
welchen die Plutokraten mit ihrem Luxus und dessen Absicherung unter anderem
durch das Militär und die Polizei betreiben. Da ja auch wir mit jedem von uns ausgegebenen Rappen deren Herrschaft
stützen, entwickeln wir immer raffiniertere Methoden, um den Geldfluss
einzudämmen. Wir steuern leidenschaftlich gern ein Segelboot durchs Meer und in die
neckische Harmonie von Wind und Wellen. Üblich wäre, mit ordinärer
Anwaltsarbeit so viel Geld aus unserer Klientschaft zu schinden, dass wir
eine Yacht kaufen oder chartern könnten. So etwas käme uns nie im Traum in
den Sinn. Stattdessen haben wir eine ausgediente, uns überlassene Jolle mit
minimalsten Mitteln hochseetauglich gemacht, sodass wir uns das Abenteuer
einsamer Fahrten im offenen Meer leisten können. Kentern wir durch, tauchen
wir ins Cockpit und ziehen am Spinackerfall einen in der –glocke verstauten
Ball ans Masttop „hinunter“. So erhalten wir den notwendigen Auftrieb, um die
Kiste in die horizontale Lage zu bringen und können sie alsbald, indem wir
aufs Schwert stehen, vollends aufzurichten. Die Gefühle, welche uns dort
draussen besuchen, helfen uns nicht schlecht, uns im Sumpf der helvetischen
Finanzmetropole zu bewegen. Geld und Liebe Dem herrschenden Prinzip, möglichst viel Geld zu verdienen, setzen wir
unseres gegenüber, nämlich möglichst nichts auszugeben. Entsprechend brauchen
wir auch kein Geld zu scheffeln. Wir legen keinen Rappen beiseite, was dazu
geführt hat, dass die Anwaltswächter, welche uns einmal wegen einer uns
aufgebrummten Busse betrieben hatten, nur einen vom Betreibungsbeamten
ausgestellten Verlustschein erfochten haben. Flugs haben sie auch das zum
Gegenstand eines Verfahrens gegen uns gemacht. (Wir glauben, es gibt bald
keine Vorwürfe mehr, welche nicht schon gegen uns erhoben worden sind.) Unsere Geldarmut ist kein aus der Not geborenes Prinzip. In den
Anstalten sind wir mit dem Zeug, welches es für das Amt eines Ministranten
der Plutokraten braucht, perfekt ausgerüstet worden. Vom Toilettenputzer bis
zum Generaldirektor könnten wir jeden Posten besetzen, alle Löhne zusammen
kassieren und uns im Gelde baden. Es hat auch nicht an Versuchen von
Plutokraten gefehlt, uns anzulocken und in den Dienst ihrer Interessen zu
stellen. Wir haben sie alle zum Teufel gejagt. Wir wüssten auch nicht, wofür es sich lohnte, Geld auszugeben. Wir sind bald nach der Entlassung aus der Erziehungsanstalt der
Liebhaber einer steinreichen, lebenserfahrenen Frau gewesen. Sie hat uns nach
London in ihre Privatsuite eingeladen. Zuerst liess sie uns in ein
Bekleidungsgeschäft an bester Adresse chauffieren und unter ihrer kundigen
Anleitung ausstaffieren. Mit einem eleganten jungen Herrn kehrte sie in ihre
Gemächer zurück. Als wir ohne ihre Begleitung auf einem unserer ersten
Streifzüge - wir hatten uns den höchsten Turm vorgenommen, um von dort die
Stadt zu überblicken - nicht wie empfohlen das Taxicab, sondern die U-Bahn
benutzten und in unserer Brusttasche nach Geld für die Fahrkarte kramten,
hielten wir 10000 englische Pfund in den Händen. Das war damals in den 60-er
Jahren noch ein ziemlicher Haufen Geld. Abends pflegten wir in nobler
Gesellschaft in ebensolchen Lokalen zu dinieren. Von all diesen Anlässen ist
uns nur noch in Erinnerung, dass wir auf eine derart zuvorkommende Art
bedient worden sind, wie nie zuvor oder nachher in unserem Leben. Ein kleines
Zucken und schon stand so ein Kerl da. Von der Tafel ging's zum
Roulettetisch. Als wir dort die Dame wegen des "Zustupfs" zur Rede
stellten, schob sie uns als Antwort unauffällig einen Stapel Chips herüber.
Wir haben ihn nicht angerührt. Nicht an jenem, aber an einem anderen Abend
haben wir beobachtet, wie sie den Tisch gesprengt hat, sodass das vorhandene
Bargeld des Etablissements nicht mehr ausreichte und sie es mit einem Check
verlassen musste. Wir besuchten die Konzerte, Kabaretts, Filmpremieren
und sassen immer auf den besten Plätzen. Wir haben gesehen, was die Engländer
in den Kolonien abmontiert und in ihre Museen gestellt haben. Zufälligerweise fiel unsere Affäre in eine Zeit, da uns die Armee der
helvetischen Plutokraten aufgeboten hatte, einen militärischen
Wiederholungskurs zu absolvieren. Auf Versäumnis stand Knast. Wir besprachen
das Problem mit unserer Mäzenin. Noch am gleichen Tag hielten wir das Zeugnis
eines Arztes in den Händen, welcher uns Kerngesundem ohne uns je gesehen zu
haben eine Krankheit bescheinigte. Wir schickten es per Luftpost dem
Oberbefehlshaber unserer Kompanie. Im Büchlein steht, wir seien in
absentia vom Dienst dispensiert worden. Die Dame hat uns in die Kunst der Liebe eingeweiht. Unsere
Erwiderungen haben sie bezaubert. Das wiederum hat uns berührt. Und so ging
das immer weiter. Drei Monate schon gab sie jeden Tag Unmengen Geld aus und
zeigte nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen. Uns ist nicht die Liebe, aber das Drum und Dran zu viel geworden. Wir reisten ins Renditenhaus des Spekulanten zurück. Sie hat uns noch einmal gerufen und wir sind diesem Ruf gefolgt, um
wehmütig Abschied zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit hat sie uns prophezeit,
wir würden ein wunderschönes junges Mädchen zur Frau nehmen. Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Geld und nochmals Geld Seit sich herumgesprochen hat, wir seien ein überaus hartnäckiger Anwalt,
werden wir immer wieder mit Angeboten konfrontiert, Aufträge zu übernehmen,
in welchen um viel, sehr viel Geld gestritten wird. Wiewohl wir von Anfang an
wissen, dass wir das Mandat nie führen werden, lassen wir uns doch umfassend
instruieren. Es geht um Erbschaften, Gütertrennungen, Geschäftsteilungen und
vieles andere mehr. Einer hat uns anheuern wollen, welcher einer Schweizer
Bank vorgeworfen hat, sie habe ihn um mehrere Millionen betrogen. Ihn haben
wir absichtlich längere Zeit warm gehalten, um uns genaueren Einblick in das
Bankgebaren verschaffen zu können. Bei allen Eigentumsdelikten gibt es immer einen
"Geschädigten", der einen "Vermögensschaden" erleiden
muss. Der Arme! Uns fehlt jegliche Einsicht, sein Möchtegernplutokratenprinzip zu bewundern
und seinen Schaden zu bedauern. Wir hatten und haben Gelegenheit bis zum Verdruss, die Wirkungen und
Implikationen des Geldes auf die Menschen global und einzeln zu verfolgen.
Unser Schluss ist unumstösslich: Geld bringt Unglück. Diejenigen, welche es haben, müssen sich ein ganzes Leben lang
pausenlos darum kümmern, um es sich zu bewahren. Und diejenigen, die keines
haben, verzehren sich lebenslänglich danach. Wir verspüren nicht die geringste Lust, unsere kostbaren Tage mit
solchem Blödsinn zu verplämpern. Freigeist Das herausragendste Element unseres eigenen Freistaates ist unser
Bewusstsein, ein gewöhnlicher Sterblicher zu sein. Uns begegnende Probleme
knacken wir mit der einfachen Feststellung, dass unser Tod unmittelbar bevorsteht.
Augenblicklich hat sich das Problem erledigt. Nur was im Angesicht unseres
Todes noch Wichtigkeit für sich beanspruchen kann, ist auch wirklich wichtig.
Es sind dies die Fragen nach dem woher und wohin und nach den Geheimnissen
des Lebens überhaupt. Wir betrachten nicht bloss uns, sondern jeden Menschen als
gewöhnlichen Sterblichen. Wer auch immer sich vor uns in seiner Herrlichkeit
aufzubauen trachtet, reduzieren wir auf den Moment seines letzten Atemzuges.
Mit der ganzen Herrlichkeit ist's sofort aus und vorbei. Im Gegensatz zu all diesen Staaten, die mit Stolz auf die Jahrhunderte
ihrer Vergangenheit zurückblicken, unermüdlich die grosse Zukunft
heraufbeschwören und doch nichts anderes als beständig ihre jämmerliche Gegenwart
verdecken müssen, wissen wir, dass unser Freistaat uns keine einzige Sekunde
überdauern wird. Wenn auch immer wir Angehörige fremder Staaten mit unserer Innen- und
Aussenpolitik konfrontieren, rennen wir offene Türen ein. Im Grunde ihres
Herzens wissen oder ahnen die Menschen, dass sie von den wasserpredigenden
und weinsaufenden Volksverführern gewaltig übers Ohr gehauen werden. Was den
meisten fehlt, sind lediglich die paar den Betrug kurz und bündig
umschreibenden Sätze. Dass wir ihnen den Text liefern, schafft Erleichterung.
Stellen wir schliesslich noch gemeinsam fest, dass die imposanten Fassaden
der Mächtigen dieser Erde ausnahmslos hohl sind, kommt schon fast ein
bisschen Mitleid für sie auf. Die Betrüger betrügen sich letztlich selbst.
Der Sinn des Lebens Wir haben Theorie und Praxis unseres eigenartigen Freistaates
ausgebreitet. Es sind keine Anleitungen, wie mit minimalem Aufwand maximaler
Gewinn zu scheffeln ist. Klar dürfte geworden sein, dass wir weder ein an
einer Kasse Sitzender, mit der linken Hand die Ware aufs Förderband Legender,
die Preise Ablesender, sie mit der rechten Eintippender, das Total Nennender,
Münzen und Noten Einsammelnder noch ein das alles überwachender Direktor und
schon gar nicht der das Geld einsackende Plutokrat sein wollen. Rekapitulieren wir Sinn und Zweck unseres bisherigen Lebens, so sind
wir die eine Hälfte darauf abgerichtet worden, zu Nutzen und Frommen der
Geldherren Funktionen in der Herstellung, im Vertrieb, in der Beseitigung von
Waren oder im Dienstleistungssektor zu übernehmen. Statt nun aber einen tüchtigen Erfolgsratensteigerungsgehilfen
abzugeben, haben wir uns die andere Hälfte unseres Lebens auf die Seite jener
Menschen geschlagen, welche die Unternehmungen der Plutokraten permanent
stören und sabotieren. Vom schulökonomischen Standpunkt aus betrachtet handelt es sich bei
uns um eine glatte Fehlinvestition. Wir wissen nicht, wie lange wir noch auf dieser Erde wandern werden.
Unser Ziel ist, den Rest unseres Lebens als jener vollkommene Anarchist zu
verbringen, welcher seine Hütte neben seinem Acker aufstellt und sämtliche
Brücken zu den „Demokratien“ oder dergleichen abbricht. Vielleicht gelingt es uns so, auf einem stillen Flecken dieser Erde
den eigentlichen Sinn unseres Lebens zu entdecken. Hvar 1993
Die Krönung Prophetische Worte! Just, als ich sie niedergeschrieben hatte,
erreichte mich in Hvar ein anonymes Schreiben des Inhalts, man hätte zwar nichts
gegen mich, aber meine Frau sei Serbin und die Serben würden Krieg gegen die
Kroaten führen und Kroaten töten. Meine Frau habe schleunigst aus dem Land zu
verschwinden. Das hat sie veranlasst, in Serbien ein gut eine Hektare grosses
Bauernhöfchen zu suchen. Sie hat es gefunden. Der unmittelbare Anlass, meine Zelte in Blutgeldmetropolien definitiv
abzubrechen, hätte typischer nicht sein können. Bekanntlich stehen die
dortigen Untertanen permanent unter der Knute von Steuervögten. Auch mich
versuchten sie zu behelligen. Gemäss Steuergesetz ist jeder
Selbständigerwerbende verpflichtet, seine Einnahmen und Ausgaben zu
verzeichnen und zu belegen. Meine Bilanzen fielen aus den schon dargestellten
Gründen regelmässig derart kläglich aus, dass lediglich eine minimale
Kopfsteuer in den Staatssäckel floss. Weil niemand mir als Anwalt dies
abnehmen wollte, bin ich alle zwei Jahre vor den für mich zuständigen
Kommissar zitiert worden. Das Ritual war das immer gleiche: In sein tristes Kämmerchen bin ich
mit dem schon erwähnten "Milchbüchlein", meinem Belegsordner und
einem vorbereiteten A3-Blatt angerückt, in welches ich mit der Schere ein
kleines Fensterchen geschnitten hatte, gross genug, um eine Zahl zu zeigen.
Im Büchlein gab es nur zwei mit "Ein" und "Aus"
bezeichnete Spalten und den dazugehörenden Text "Honorar" bzw.
"Spesen" sowie eine Ordnungsnummer, welche dem im Ordner verstauten
jeweiligen Beleg entsprach. Bereitwillig überreichte ich es dem Beamten, erläuternd, das
Steuergesetz verlange lediglich eine minimale Aufstellung, welchem
Erfordernis meine Zahlenreihen spielend genügten. "Zeigen Sie mir den
Beleg für den Einnahmeposten soundso", eröffnete er seine Prüfung. Ich
liess mir die Ordnungsnummer nennen, öffnete mit einem Griff meinen Ordner
und verdeckte den Inhalt der Urkunde mit meinem vorbereiteten Blatt. Das
Fensterchen führte ich auf ihr zur Stelle, wo die im Büchlein notierte Zahl
aufschien. Darauf durfte er dann einen Blick werfen. "Alles andere ist
Anwaltsgeheimnis", habe ich mit keinen Widerspruch erheischendem Ton
nachgedoppelt. Nach ein paar weiteren Stichproben, bei welchen die
Eintragungen im Buch und auf den Belegen ziffernmässig haargenau
übereinstimmten, pflegte er sich umzuwenden, den meine Steuererklärung
bekräftigenden Einschätzungsentscheid in seine Schreibmaschine zu hacken und
ihn mir mit der Bemerkung zur Unterschrift hinzustrecken: "Ausser Spesen
nichts gewesen". Dieser Beamte hatte offensichtlich kapiert, dass ich kein ordinärer
Anwalt gewesen bin und dass meine ausgeklügelte Ökonomie nicht Theorie,
sondern Praxis war. 1994 hat sich das Blatt gewendet. Ein neuer, ausgerechnet in der
gleichen Anstalt wie ich erzogener Steuerkommissar war für mich zuständig
geworden, ein Grünschnabel und Karrierist in einer Person, welcher gleich zu
Beginn der Prüfung grossspurig hinausposaunte, seine scharfen Methoden hätten
dem Staat schon Millionen eingebracht. Die Art, ihn in meine Karten blicken
zu lassen, behagte ihm überhaupt nicht. Nach wenigen Proben brach er die
Übung ab und erklärte, ich würde schriftlich Bescheid bekommen. Prompt
flatterte eine Verfügung ins Haus, wonach ich ihm sämtliche Bankunterlagen
einzureichen hatte. Meine Telefonate bei rund zehn Kollegen ergaben, dass
dies noch keinem untergekommen war. Also schnitt ich aus dem Telefonbuch die
Seiten mit der Anwaltsrubrik aus und stellte den Beweisantrag, es seien
sämtliche gemäss Beilage aufgelisteten rund eintausend Anwälte der
Blutgeldmetropole als Zeugen darüber einzuvernehmen, ob sie in einem
Steuerverfahren ihre Bankunterlagen vorzuweisen hatten. Falls dies nicht der
Fall sei, würde ich willkürlich ungleich behandelt, was gegen das
verfassungsmässige Gleichheitsgebot verstosse. Natürlich hat der Vogt sehr wohl gewusst, dass ein solches
Beweisverfahren für ihn höchst ungünstig verlaufen wäre, weshalb er ohne
Federlesen zum nächsten Streich ausgeholt und mich selbstherrlich mit
irgendeiner Phantasiezahl eingeschätzt hat, welche der Staatskasse das rund
Tausendfache meiner üblichen Kopfsteuer beschert hätte. Da hat er mich aber schwer unterschätzt! Um mich über die honorigen
Herren noch lustig zu machen, habe ich seinen Entscheid angefochten, so dass
es zu einer Verhandlung vor der zuständigen Rekurskommission kam. Damals
hatte ich während meiner jährlichen Retraiten gerade Gelegenheit, auch noch
mit Yachten weit über die Meere zu segeln, was ich mir gratis und franko
ermöglichte, indem ich sie Tausende von Meilen überführte. Die blanke Willkür
des Beamten habe ich in meiner Schelte gegen den Steuerbescheid nur am Rande
gestreift. Mit dem weisen Volksmund, wonach eine Krähe der andern kein Auge
aushackt, sah ich das Verdikt klar voraus. Das habe ich auch gebührend
betont. Meine Argumente gipfelten in der heiter vorgetragenen Erklärung, es
werde mir eine Ehre sein, einen schweizerischen Betreibungsbeamten auf hoher
See zu empfangen. "Müssen wir uns das überhaupt anhören", entfuhr
es einem Mitglied. Die Sitzung war geschlossen. Da mein Exodus bereits programmiert war, meldete ich mich sofort in
der Schweiz ab. Auf die Frage, wohin, antwortete ich, das gehe niemanden
etwas an. Während ich schon im Ausland war, flatterte die gesalzene Rechnung
des Steueramtes an meine alte Adresse. Sie ist bis heute unbeglichen
geblieben. Die Behörden haben gar nicht erst versucht, ihr "Guthaben"
einzutreiben. Aufgrund meiner Steuerakten wussten sie zuverlässig, dass
mangels pfändbarem Vermögen lediglich ein Verlustschein resultiert hätte. Also doch: "Ausser Spesen nichts gewesen..." Jetzt brauche ich keine Steuererklärungen mehr auszufüllen,
Krankenkassen zu bereichern, auf Schritt und Tritt das Portemonnaie oder eine
Kreditkarte zu zücken. Es ist mir sogar gelungen, die Hypothekarschulden
meiner Kinder und damit auch die Zinslast zu liquidieren - wie, das bleibt
mein Staatsgeheimnis. In einer ersten Phase nach meinem glänzenden Abtritt pendelte ich noch
zwischen dem neuen Mittelpunkt meiner Lebensbeziehungen und dem Ort meines
früheren Wirkens hin und her, um ab der Jahrtausendwende nur mehr jeden
zweiten Winter nach Alpengermanien zu reisen und - wie schon Tucholsky für
seine Zeit - jedes Mal erneut festzustellen, dass "noch alles beim
Alten" ist. Es ist für mich keine Frage, dass ich als Urbauer zur überhaupt
effizientesten Lebensstrategie zurück gefunden und damit meiner eigenen
Souveränität die Krone aufgesetzt habe. Der geniale Pakt mit der Natur Während ich in der Schweiz zu hundert Prozent von der Landwirtschafts-,
der Lebensmittel-, der übrigen Industrie, dem Zwischenhandel und den
Dienstleistungen abhängig war, um meine Grundbedürfnisse zu decken, hat sich
dieser Grad inzwischen auf rund fünf Prozent verringert. Meine Nahrung
produziere ich - von Öl, Zucker und einigen wenigen anderen Produkten
abgesehen - selber. Haus und Hof werden von mir unterhalten. Meine Kleidung
stammt vorwiegend aus im Westen fortgeworfener Garderobe. Das Minimum an
Geld, rund ein Zwanzigstel dessen, was ich in Plutokratien brauchen würde,
verdiene ich mir, indem ich Zwangspsychiatrisierte und ihre Angehörigen
berate, welche via Internet an den Verein PSYCHEX gelangen. Mein Alltag ist spannend und abwechslungsreich. Um keinen Preis möchte
ich mit einem Staatspräsidenten, Bankdirektor, Fabrikanten oder einem ihrer
Lakaien tauschen. Ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass ich -
soweit dies menschenmöglich ist - weiss, was die Welt im Innersten
zusammenhält. 28. Oktober 2004 Edmund Schönenberger |
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