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 Die erstaunlichen Parallelen

zwischen

Inquisition und Zwangspsychiatrie

 

 

Die Inquisition hat die Menschen eingesperrt. Auch die Zwangs­psych­iatrie bedient sich dieses Mittels. In den Ker­kern der In­qui­si­tion sind die Men­schen gefoltert wor­den. Gleiches ge­schieht in den psych­ia­trischen Anstalten. Unter­schiede be­ste­hen le­dig­lich in den Me­tho­den. Die In­qui­si­tion pflegte die rohe Fol­ter[i]. Die Zwangs­psych­ia­trie ope­rier­te frü­her mit Lo­bo­to­mien, Ste­rili­satio­nen, Elek­tro­schocks, Zwangs­jacken, Dec­kel­bädern etc.. Heute wer­den die Einge­sperrten ge­zwungen, als Medika­mente getarnte heimtückische Ner­ven­gif­te zu schlucken. Wenn sich jemand wei­gert, werden Aufgebote von bis zu ei­nem Dut­zend Pfle­gern zu­sam­men­ge­trom­melt. Das Opfer wird ge­walt­sam gepackt und aufs Bett gefes­selt. Als­bald wer­den ihm die Sub­stan­zen mit­tels ei­ner In­jek­tionsnadel in den Kör­per ge­pumpt.

 

Gemeinsam war und ist beiden Institutionen das sog. Ge­ständ­nis. Die Op­fer der Inquisition wurden hoch­notpeinli­chen Ver­hö­ren unterworfen, bis sie gestan­den, Ket­zer zu sein[ii]. Die Opfer der Zwangs­psych­ia­trie müs­sen ge­ste­hen, gei­stes­krank zu sein. Es fin­det eine eigentliche Ge­hirn­wäsche statt. Meist schon bei der Ein­wei­sung, je­den­falls aber in der An­stalt wird ih­nen von den Ärz­ten er­öff­net, sie sei­en krank. Ihr spontaner Pro­test wird mit der Fest­stel­lung quit­tiert, sie seien krank­heits­un­ein­sich­tig. Die Krank­heitsunein­sich­tig­keit wie­derum wird als we­sentli­ches Merk­mal einer Gei­stes­krank­heit bewer­tet. Eine teuf­lische Falle. Den Opfern wird klar­gemacht, eine Ent­las­sung komme erst in Fra­ge, wenn sie ein­se­hen wür­den, krank zu sein. Das zwingt sie, in wo­chen-, mo­na­te- und manchmal so­gar jah­re­lan­gen Pro­zes­sen ihr gan­zes Be­wusst­sein um­zu­krempeln und schliess­lich das ver­langte Ge­ständ­nis ab­zu­le­gen. Ein Lip­pen­be­kennt­nis ge­nügt kei­nes­wegs und wird von den Ärz­ten nicht akzep­tiert. Um die Krankheits­einsicht zu fixie­ren, wird den Entlassenen häufig die Pflicht auferlegt, sich der Kon­trolle eines Arztes zu unter­ziehen und ­wei­ter­hin die "Me­di­kamente" zu schlucken. Im Un­terlassungs­fall wird mit er­neu­ter Einwei­sung in die An­stalt gedroht. Die Masse der Zwangspsychiatri­sier­ten ver­wan­delt sich so in läppische, verängstig­te, scheu­e, de­vo­te, je­den­falls aber fürs ganze Leben gezeich­ne­te Men­schen. Nur we­ni­gen gelingt es, stand­haft zu blei­ben, mit zum bösen Spiel ge­machter guter Miene die Ärzte zu über­töl­peln und sich durch­zu­set­zen. Gross ist die Zahl der­je­ni­gen, wel­che die Pro­zedu­ren völlig bre­chen. Sie werden als "Chro­ni­sche" abge­bucht und verbrin­gen prak­tisch das gan­ze Leben hinter den Mauern. 

 

Abgeschafft ist - im Gegensatz zur Inquisition - der Schei­ter­haufen. Allerdings gibt es bedeutend mehr Tote in den psych­ia­trischen An­stalten, als früher Ketzer ver­brannt wor­den sind. Die Selbstmordrate in den Anstalten und nach sol­chen Aufent­hal­ten ist bis zu 100-fach hö­her als bei der "Nor­mal"-Be­völke­rung[iii]. Die demütigenden Pro­zeduren - über­fallsmässi­ger Abtransport in die Anstalt, im Falle des Wi­der­stands mit Po­li­zei­ge­walt und in Hand­schel­len; als Geisteskranker abgestempelt zu werden; die Zwangs­medikation, vor­ab das "Her­un­ter­sprit­zen" und die Drohun­gen da­mit; die Sus­pen­die­rung prak­tisch sämtli­cher Men­schen­rechte - lassen den Tod häufig als das kleinere Übel er­schei­nen. Die Be­hand­lun­gen mit den Ner­ven­gif­ten en­den nicht sel­ten töd­lich[iv].

 

Die heim­li­che statt öf­fent­li­che Be­sei­ti­gung von Men­schen dürfte mit dem allge­mei­nen Stil­wan­del zusam­men­hän­gen, wel­chen die fran­zö­si­sche Revo­lu­tion ein­ge­lei­tet und die rus­si­sche ab­ge­schlos­sen hat: Die ge­krönten Häup­ter, die sich bis da­hin mit gros­sem Pomp zur Schau ge­stellt hat­ten, durf­ten un­ge­straft ei­nen Kopf kür­zer ge­macht wer­den. Das hat die gesam­te Herr­scher­clique bewo­gen, in den Unter­grund zu tau­chen und von dort aus ihre Imperien - als Demo­kratien ver­marktete Plutokratien - um die Welt zu span­nen. Dis­kre­tion ist zu einem ih­rer ober­sten Ge­bo­te ge­worden. Fa­nale wie öf­fent­li­ches Ver­bren­nen, Ent­haupten oder Er­hän­gen werden ver­mie­den. Die heu­te be­vor­zug­te Met­hode be­steht dar­in, die das Herr­schafts­system stö­ren­den 'Ele­men­te' in herme­tisch abge­schot­te­ten Mas­sen­an­stal­ten auf­zubewah­ren und die anfal­len­den To­ten un­auf­fäl­lig zu ent­sor­gen. 

 

Inquisition und Zwangspsychiatrie kannten bzw. ken­nen beide die sog. Ver­dachtsstrafe. Sie be­deu­tet, dass es kei­ner Be­wei­se, son­dern des blossen Ver­dachts der Ketze­rei bzw. der Gei­stes­krank­heit be­durfte und be­darf, um die vor­gese­henen Sank­tio­nen auszu­lö­sen[v]. Eine De­nun­ziation rief die Orga­ne der In­quisi­tion auf den Plan. Heute ge­nügt ein Anruf bei ei­nem Psych­ia­ter, um einen lä­sti­gen Menschen los­zu­wer­den.

 

Gemeinsam haben Inquisition und Zwangspsychiatrie die ab­so­lute Ge­heimhaltung. Die Folterknechte von damals muss­ten heilige Eide schwören, kein Sterbens­wörtchen über die Vor­gänge verlau­ten zu las­sen[vi]. Das An­stalt­sper­so­nal hat mit Strafverfolgung rechnen, falls es Ge­heimnisse aus­plau­dert[vii]. Die Gerichts­ver­fahren wa­ren und sind ge­heim[viii].

 

Damals wie heute drohten bzw. drohen Verteidigern von Ket­zern bzw. von Geisteskranken Berufsverbote[ix].

 

Ketzer und Geisteskranke wurden bzw. werden mit den glei­chen Euphe­mismen bedacht. "Wir wollen Dir ja nur zum rech­ten Glauben verhelfen und so Dei­ne arme See­le vor dem Teu­fel und ewi­ger Ver­damm­nis ret­ten", ha­ben die Ket­zer von den In­qui­sito­ren zu hören bekom­men. "Wir wol­len für Dich im ge­schütz­ten Rah­men ei­ner Kli­nik sorgen und Dich ge­sund ma­chen, damit Du wieder ein wohl­funktionie­ren­des Mit­glied un­serer Gesell­schaft werden kannst", flö­ten die Ärz­te den Gei­stes­kran­ken ins Ohr.

 

Die Zwangspsychiatrie geht sogar noch einen Schritt wei­ter, als die Inquisition. Um die letzte Jahrhun­dertwende herum ist das Prinzip der Eugenik entwickelt worden. "Geisteskran­ke" dür­fen sich nicht mehr fortpflanzen[x]. Wer in ei­ner An­stalt lan­det, kann fak­tisch kei­ne Kin­der zeu­gen. Die auf­ge­zwunge­nen Gif­te ma­chen im­po­tent. Psy­chi­a­tri­sche Diagnosen stig­ma­ti­sie­ren und behin­dern die Eti­ket­tierten mas­siv bei der Part­ner­su­che.

 

Im Urteil der Zeit waren die Inquisitoren und ihre Auf­trag­ge­ber hochgeachtete Persönlichkeiten. Das gleiche gilt von den Organen der Zwangspsychiatrie. Erst im Ur­teil der Ge­schichte ist die Inquisition als das infame Herrschaftsin­strument demaskiert wor­den, welches es gewe­sen ist. Noch ist die Zwangs­psychiatrie Gegenwart. Ich bin in­des­sen zu­ver­sicht­lich, dass die Geschichte mit ihr gleich wie mit der Inqui­sition verfahren wird. Keine Epo­che hat bis jetzt ewig ge­dau­ert. Noch jede ist früher oder spä­ter zusammengekracht. Wer das Knistern im Gebälk der Zwangspsychiatrie nicht hört, das Wackeln von Dach und Fundamenten der hiesigen und übri­gen westlichen Plu­tokratien ­nicht sieht, ist taub und blind.                 

 

 21. September 1994                            

 

Edmund Schönenberger

 

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[i].  Henry Char­les Lea, Die In­quisition, Nörd­lingen 1985, S. 232 ff.

[ii].  Lea, a.a.O. S. 221 ff.

[iii].  Mat­thias Seibt, Wis­senswertes, Bo­chum 1994; Lea, a.a.O. S. 376

[iv].  Mat­thias Seibt, a.a.O.

[v].  Lea, a.a.O. S. 247; Kempker/Lehmann, Statt Psych­ia­trie, Berlin 1993, S. 187

[vi].  Lea, a.a.O. S. 215 f.

[vii].  Aus­hang An­stalt Mün­sin­gen 1993

[viii].  Lea, a.a.O. S. 216; BGE vom 16.6.1988 i.S. P.S. ge­gen ZHPGK

[ix].  Lea, a.a.O. S. 259 f.; ZHAKRA vom 4.2.1993

[x]. Art. 97 Abs. 2 ZGB; Marc Rufer, Wer ist irr? Bern 1991, S. 98 ff.